Der Zauber der Deduktion
Die Philosophie hat unmittelbare Anwendungen auf das Leben, meine Damen und Herren. Zum Beispiel: Viele Menschen versuchen, die Aufgaben des Lebens mithilfe der Deduktion zu lösen. Mit diesem logischen Verfahren wird seit Aristoteles die Ableitung des Besonderen und Einzelnen vom Allgemeinen bezeichnet, also die Erkenntnis des Einzelfalles durch ein allgemeines Gesetz, der Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere. Dem steht die induktive Methode gegenüber: die Gewinnung von allgemeinen Aussagen aus der Betrachtung von Einzelfällen. Überlegen Sie mal, welche Methode Sie für Ihre persönliche Lebensbewältigung vorzüglich anwenden.
Und wieso überhaupt diese philosophischen Spekulationen?, fragen Sie mich. Wegen der Wespen. Genau, Wespen. Neueste Erkenntnisse besagen: Wespen sind zu deduktivem Denken in der Lage. Ich persönlich hatte diesen Verdacht ja schon lange. Wir werden dieses faszinierende Phänomen und seine Implikationen im Folgenden etwas genauer beleuchten:
Wespen sind nicht nur zur Deduktion, sondern auch zu transitiver Inferenz in der Lage. Mit transitiver Inferenz wird ein Denkprozess bezeichnet, der Objektpaare per Rückschluss in logische Beziehungen setzen kann. Zum Beispiel nach folgendem Muster: Rosi hat mehr Bücher gelesen als Martin. Horst hat mehr Bücher gelesen als Rosi. Wer hat mehr Bücher gelesen, Horst oder Martin? Die Fähigkeit zur transitiven Inferenz bedeutet also, dass auf einem logischen Umweg auch neue Paare zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Das kann im Überlebenskampf von Vorteil sein. Stellen Sie sich Situationen in Kontexten von Gruppen, Horden, Herden, Rotten, Schwärmen oder Rudeln vor. Vermittels transitiver Inferenz lassen sich Kämpfe beim Aufeinandertreffen von zwei sich unbekannten Gruppenmitgliedern von vornherein vermeiden. Wenn nämlich mindestens eine Seite des potenziellen Konflikts die andere Seite bereits in Interaktion mit einer vertrauten Drittpartei beobachtet hat. Dann kann das betreffende Individuum dank transitiver Inferenz seine eigene relative Stärke dem unbekannten Individuum gegenüber in Beziehung setzen und bei mangelnden Erfolgsaussichten auf die Konfrontation verzichten. So wird wertvolle Energie gespart. Wespen sind übrigens nicht die einzigen Tiere, die zu transitiver Inferenz in der Lage sind. Und das Prinzip lässt sich natürlich auch auf potenzielle Konflikte in menschlichen Gesellschaften übertragen. Aber das führt uns wieder zu anderen philosophischen Fragen.
7 Kommentare zu «Der Zauber der Deduktion»
Was waren das wieder für Forscher, Herr Tingler? Zu dem, Können , heisst nicht gleich müssen! Sitzt eine Wespe oben am Bierglas , das hat sie immer noch die Wahl, sich im Bier zu ersäufen, oder weg zu fliegen!
Na und? Menschen haben es auch geschafft Motoren zu erfinden und was machen sie? Sie bringen sich gegenseitig damit um.
Als ob eine Fähigkeit Aufschluss auf einzelne Individuen zulassen würde. Sowohl bei Wespen als auch bei Menschen.
Richtigerweise bringen Sie das Wahrheitskriterium nicht mit ein. Es leuchtet ein, dass bei der Induktion, als Methode z.B. bei der Auswertung soziologischer Feldforschung, später immer noch Einzelfälle auftreten können, die dem eruierten Allgemeinen entsprechen sollten, es aber dann doch nicht tun. Auch bei der Deduktion ist man nie zu 100 % sicher, ob das Allgemeine immer zutreffen wird, z.B. bei der Erdanziehung im Vergleich zu Ereignissen bei extrem tiefen Temperaturen. Bei Nr. 3 gehen wir zudem davon aus, dass niemand lügt oder flunkert, z.B. die Bücher nur überfliegt. Ob wir eher induktiv oder deduktiv vorgehen, ist im Alltag kaum zu entscheiden, v.a. bei unbewusster Determiniertheit durch die Erziehung oder soziale Konventionen. Bei Richtern heisst das Vorverständnis.
Wie schrieb George Bernard Shaw: »Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch.«
Transitive Inferenz kann dazu führen, bestehende Vorurteile und Halbwahrheiten zu verfestigen und zu verstärken. Im Tierreich ist transitive Inferenz sicher hilfreich, um die Art zu erhalten. Doch im Menschenreich stellt sie eine völlig unzureichende Basis für das Miteinander dar. Wir sind zu vielschichtig und erst noch abhängig von unserer Tagesform und unserem aktuellen, privaten Umfeld. Wir kranken heute eher daran, zu rasch Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich wenig später als Fehler erweisen.
Schön, dass Sie wieder mal ein natürliches Photo verwendet haben, Herr Tingler. Irgendwie ist es mir lieber. Aber eben, es ist Ihr Blog. Diesmal äußerst interessant. Ein Thema für eine spannende Unterhaltung. Wer hätte gedacht, dass die Wespen so clever sind. Aber wo kein Verstand, dort muss eine andere Strategie her. Echt tierisch.
Ich wusste nicht, dass man diese art des Vergleichs Transitive Inferenz nennt. Danke für die Info.