Das überfüllte Gesicht

Über peinlichen Konsum.
Der Füller unserer Konsumgesellschaft: Hyaluronsäure. Foto: iStock; Montage: Kelly Eggimann

Der Füller unserer Konsumgesellschaft: Hyaluronsäure. Foto: iStock; Montage: Kelly Eggimann

Wissen Sie, was ein überfülltes Gesicht ist, meine Damen und Herren? Das ist ein Gesicht, in das zwecks optischer Verjüngung (genauer: Alterstranszendierung) so viel Füller injiziert wurde, dass es ungefähr aussieht wie ein Smiley, das jemand auf einen Luftballon gemalt hat. Im Endstadium. Vorher werden verschiedene Stufen der Konturlosigkeit und Vakanz durchlaufen. So ein überfülltes Gesicht ist ein Zeichen und Menetekel von Verdinglichung in unserer spätmodernen Konsumgesellschaft und gibt der alten Weisheit Friedrich Nietzsches eine ganz neue Wendung: Der Leib ist ein Gedächtnis, hat Nietzsche gesagt, das Leben ist im Leib sedimentiert. Und nun ist eben Substanz oder Füller als Ware im Leib sedimentiert, gerade um das Gedächtnis auszutricksen. Der Füller, zum Beispiel in Form von Hyaluronsäure, hebt das Alter im dreifachen Hegelschen Sinne auf: indem er es gleichzeitig bewahrt wie auch storniert und dialektisch erhöht. Eine famose Dialektik, in der Tat. Schade, dass Herr Marx das nicht mehr erlebt hat.

So ein überfülltes Gesicht kann uns bei unserem Gegenüber peinlich berühren, wie auch andere Konsumakte anderer uns peinlich sein können (zum Beispiel wenn jemand Junkfood im Tram konsumiert oder das neue Buch von dieser einen Autorin, mir fällt der Name grad nicht ein, Sie wissen schon). Peinlich wirkt das Anpassungsinteresse, der allzu sichtbare Wunsch, zu gefallen. Peinlich wirkt das Affektierte, Gezierte, Angemasste, das zeigt, «welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet», so schreibt der Dichter Heinrich von Kleist.

Peinlichkeit oder Statussymbol?

Doch das Empfinden von Peinlichkeit ist stets mit Werturteilen verbunden, und Werte sind zunächst: subjektive Präferenzen. Die sich dann unter anderem eben in Konsumhandlungen ausdrücken. Oder deren Missbilligung. Was dagegen die Moral angeht, also die Gebote und Verbote der umgebenden Gesellschaft, so ist auf dieser Ebene beachtlich, dass der sichtbar modifizierte, ausgestellte Körper nicht allen Milieus als Emblem eines verwerflichen Schönheitswahns gilt. Also auch nicht immer und überall peinlich ist.

Körpermodifikationen und ihr Konsum und die Reaktionen auf diesen Konsum sind ebenfalls Embleme der Fragmentierung unserer Gesellschaft. Bestimmte Milieus deklarieren «Natürlichkeit» zum Leitwert (mit dem paradoxen Effekt, dass plastische Chirurgen dann eben «Natürlichkeit» anbieten, denn das, was wirklich natürlich ist, will natürlich kein Mensch sehen). Demgegenüber sind sichtbare Körpermodifikation in anderen Sphären, die durchaus keine Minderheit darstellen, ein Statussymbol. Implantate und Füller-Injektionen signalisieren dort: Ich kann mir das leisten (auch wenn ich dafür nach Osteuropa reisen muss). Und: Ich arbeite an mir. Ich bringe Opfer und leide, indem ich mich Eingriffen unterziehe, Rekonvaleszenzperioden durchmache und Risiken in Kauf nehme. Auch diese Narration ist eine Art von Bildungsmythos in der spätdigitalen Leistungsgesellschaft mit ihrem vermeintlichen Optimierungsdogma.

Das Verlangen nach instagramisierbarer Distinktion und reizstarker Erlebnisqualität teilen sich die Milieus. Die Werte nicht. Der tragische, überfüllter werdende Bereich ist die Schnittmenge, die als eine Wertekonfusion verstanden werden kann. Also: Menschen, die glauben, natürlich auszusehen, und tatsächlich einem Ballon ähneln, auf den … Sie wissen schon.

14 Kommentare zu «Das überfüllte Gesicht»

  • sophie sagt:

    Sehr gut geschrieben ! Ja, es ist peinlich diese Leute anzuschauen mit den gefüllten Lippen und Wangen, operierten augenlieder, usw. Manchmal ist es wirklich zuviel. Würden die Leute nicht ständig die Stirn runzeln beim reden und an der Sonne liegen, wäre all dies nicht nötig. Ich sehe im Zug junge Leute welche schon tiefe runzeln haben in der Stirn, wie schade. Es längt wenn man aufhört das Gesicht zu verzerren beim sprechen (dies ohne zu übertreiben).
    Vor vielen Jahren habe ich mal ein interview mit Catherine Deneuve gelesen. Auf die Antwort „wie bleiben sie so jung“ sagte sie „ich grimasse nie und meine Stirn bleibt glatt“. Sie hatte recht: am selben Tag fing ich an dasselbe zu tun ! Mit Erfolg !

  • Rolf Rothacher sagt:

    Heinrich von Kleist starb vor über 200 Jahren. Mit seinen Worten ein heutiges Phänomen zu beschreiben, zeigt, dass es gar kein „heutiges“ Phänomen ist, sondern ein Dauerthema der Menschheit. Warum aber wundert sich Herr Tingler, dass die Moral mit ihren Geboten/Verboten nicht klar festlegt, ob eine solche „Verschönerung“ in Ordnung geht oder nicht? Denn es gibt keine einheitliche Moral. Auch sie beruht auf individuellen Werten. Deshalb kann ein Mafia-Boss trotz seiner Verbrechen ruhig schlafen.
    Botox ist neue Technik. Aber den Drang zur Verschönerung liegt in den Instinkten des Menschen. Und auch Instagram ist bloss neue Technik und ändert nichts an unserem instinkt-getriebenen und damit unbewussten Verhalten.

  • Marc Scheu sagt:

    Zu Botox: ich weiss nicht, wie viele Benützer sich bewusst sind, dass dieses Gift immer mit Tiertests (pro Jahr etwa 600’000 Mäuse die vergiftet werden) geprüft werden muss. Man spritzt sich also auch Tierleid. Wikipedia: Die Tiere erleiden Muskellähmungen, Sehstörungen und Atemnot, bevor sie ersticken.

    • LiFe sagt:

      Sehr gut auf den Punkt gebracht…..es machen auch sehr viele Fotos von sich selbst! Solange werden Tiere wegen Selfies und selfish Benutzer elendig leiden müssen. Bescheuert 🙁

  • Cédric Ruckstuhl sagt:

    Meine Freundin (ist aus Osteuropa) hat auch solche Silikonlippen und Füller in den Wangen. Natürlich sieht man, dass sie sich hat machen lassen. Sie ist auch sonst eine auffällige Erscheinung Ihr (und mir) gefällt es sehr gut. Aber gerade von Schweizer Frauen erfährt sie sehr oft Neid.

    • Giuliano M. Tenebre sagt:

      Aus der Zeitschrift „Gala“ von Anfang Februar in einem Exklusiv-Interview mit Heidi Klum:

      Auf die Frage, ob sie sofort erkenne, dass jemand gebotoxt ist, antwortet sie: „Natürlich. Aber ich glaube, man soll es auch sehen.“ 

    • v.meier sagt:

      neid,sind sie sicher?es gibt nichts grässlicheres als so aufgepumpte Frauen(und natürlich auch Männer).die haben doch alle ein Problem.mich freuts zuzusehen wie die alt werden

    • Sophie Marten sagt:

      Glauben Sie mir Herr Ruckstuhl, in den seltensten Fällen ist es Neid.

    • Tofa Tula sagt:

      Gut für Sie. So müssen Sie wenigstens keine Angst haben, dass ein anderer sie haben will.

    • balu sagt:

      Neid? Eher Mitleid.

    • Beatrice sagt:

      sind sie sicher, dass es neid ist? nicht alle schweizer, die kritisch sind, sind automatisch neidisch.

    • Lia sagt:

      lieber Cédric, es ist bemerkenswert, wie oft Frauen, die Botox nicht mögen, Neid unterstellt wird. Glaub mir, die wenigsten Frauen sind darauf neidisch (wieso auch? Sie könnten sich ja ruckzuck selber solche Schläuche zulegen), sondern finden dies einfach abstossend. Ich kenne viele solcher Frauen und beneide sie kein bisschen – wie wenig Freude muss man am Leben haben, dass man sein Aussehen so hasst, dass man sich optimieren muss? Meine natürlichen Lachfalten ziehen Männer en masse an, während die Wachspuppen meist schmollmundig allein daneben sitzen.

  • Scout sagt:

    Hier begebe ich mich auf Glatteis. Wenn man Opfer bringt und leidet, indem man dies und das tut sowie in der Folge etwa eine Statusmehrung oder ein anderes für sich wertvolles Ergehen erwartet, ist das ein uralter Mythos, der auch religiös sein kann. Das ist der Qualifikation als Bildungsmythos nicht abträglich, kann aber auch reiner Kult sein, der eingeübt wird, ohne direkt bildend zu sein. Nun gut, auch Einübung kann mittelbar Bildung sein. Wenn Werte vorerst als subjektive Präferenzen definiert werden, wird die Wertekonfusion weltumfassend, ist aber auch der mehr oder weniger langsamen Wandlung unterworfen. Die Schnittmenge verschwindet. Das empfinde ich nicht als grundsätzlich negativ, solange positive Leitwerte herrschen und weiterentwickelt werden.

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