Das Einvernehmlichkeitskondom

Wenn Waren ihren Sinn verschieben.

Ziemlich umständlich: Warum erfinden wir ein Kondom, das sich nur vierhändig öffnen lässt? (Foto: iStock; Montage: Nathalie Blaser)

Der schwer überhörbare Kulturkritiker und Psychoanalytiker Slavoj Žižek sieht den Geist des Westens beherrscht von «distractive consumerism», also ungefähr: einem auf Ablenkung (vom Eigentlichen) ausgerichteten Konsumismus, mit einer «seltsamen Pflicht zu Genuss». Žižek findet, die Permissivität der Spätmoderne sei die eigentliche Unterdrückung. Also nicht: «Du musst», sondern: «Du musst freiwillig». Und während Sie noch darüber nachdenken, sage ich Ihnen: Dazu gibt es jetzt ein Produkt. Das Consent Condom. Das übersetzen wir mal mit «Einvernehmlichkeitskondom». Das Einvernehmlichkeitskondom kommt aus Argentinien und zeichnet sich aus durch eine spezielle Verpackung, die sich nur mit vier Händen öffnen lässt. Also zu zweit. Einvernehmlich.

Das hebt den ethischen Konsum auf eine Ebene, die nicht zuletzt deshalb interessant ist, weil sie das eigentliche Produkt ja nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Immerhin waren leicht zu öffnende Verpackungen seit jeher ein wichtiges Verkaufsargument für Kondome. Das Einvernehmlichkeitskondom erinnert ein bisschen an einen Volvo. Und zwar so: Während traditionellerweise die Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigung wichtige Verkaufsargumente für ein Automobil darstellten, will Volvo damit anfangen, seine Fahrzeuge mit Tempodrosselungshoheit und Fahrstilwarnungen auszurüsten, bis hin zum autonomen Stillstand.

Boykott ist populär

Eine solche Art moralischer Subversion von überlieferten Produktnormen seitens des Herstellers ermöglicht den Konsumenten eine neue Haltung gegenüber der Ware und der mit ihr assoziierten Verhaltensweisen. Ethisch ist dies differenzierter, also anspruchsvoller als beispielsweise ein einfacher Boykott des Automobils. Boykott ist aber populär. Gerade im Kunstkonsum scheint der Boykott inzwischen zu einem kulturellen Manifestationspunkt der Spätmoderne aufgestiegen. Die BBC spielt Michael Jackson nicht mehr. Die Literaturwissenschaftlerin Nikola Rossbach hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die direkte Ineinssetzung von Künstler und Werk grundsätzlich eine identitätspolitische Anwendung ist: Nicht was jemand kann, sondern was er oder sie ist (oder zu sein scheint), wird zum Massstab.

Die Verbindung von Moral und Kreativität koppelt sich ihrerseits mit einer Zensur, die nicht mehr vom Staat ausgeht. Sofern es das künstlerische Leben als Ausweg aus marktlogischen Verwertungszusammenhängen jemals gegeben hat, wird dieser Ausweg enger und enger. Während alle unerhört kreativ sein wollen (Žižek würde sagen: wollen müssen), bleibt dem richtigen Künstler heute viel weniger erlaubt; er wird nicht mehr, wie seit der Renaissance und noch im 20. Jahrhundert, als Ausnahmeexistenz betrachtet, der Transgressionen zustehen. Da gewinnt die Diskussion um die Kunstproduktion durch Algorithmen plötzlich eine ganz neue Dimension. Von Algorithmen gehen schliesslich im richtigen Leben keine Übergriffe, keine Zumutungen aus. Oder doch?

Manchmal aber scheint der Boykott das einzige Mittel. Nachdem das Sultanat Brunei Scharia-Gesetze eingeführt hat, die unter anderem Homosexualität und aussereheliche Beziehungen mit dem Tod durch Steinigung belegen, folgt eine wachsende Zahl von Unternehmen weltweit dem von Schauspieler George Clooney angeführten Aufruf, Geschäftsverbindungen mit Firmen des Sultanats zu kappen. Und plötzlich sind wir weit weg von Žižek und seinem «Verlust von Verlangen als ultimativer Melancholieerfahrung». Oder nicht?

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5 Kommentare zu «Das Einvernehmlichkeitskondom»

  • Rolf Rothacher sagt:

    Ob 4-Hand-Kondom, Jackson oder den Aufruf von Clooney, alle sind bloss Ausdruck allgemeiner Hilflosigkeit, gepaart mit gesundem Geschäftssinn. Jede Verpackung kann man auch aufschneiden, die Fingerabdrücke der Frau auf der Folie auch erzwingen oder aber eine frühere Verpackung zu beweiszwecken für spätere Vergehen aufbewahren. Und wenn die Hysterie die Massen überfällt, reagieren Radiosender kommerziell. Das war immer schon so und die Politiker machen es uns ja vor, in dem sie auch der Klima-Hysterie verfallen und unsinnige Dinge ernsthaft anordnen („Brot und Spiele“, gebt dem Volk, wonach es dürstet). Und Clooney lenkt den Blick zwar auf einen wunden Punkt. Dabei gehen 100 andere, weitaus dringendere(!), jedoch einmal mehr vergessen. Wir leben im Zeitalter der Ablenkung!

  • Kristina sagt:

    Gut, dass Sie das erwähnen. Der Algorithmus, der die Möglichkeiten des Volvos steuert, ist dieser zu übersteuern? Wie lange noch? Und wann ist der richtige Zeitpunkt das Steuer selbst zu übernehmen? Mich dünkt, dass die Einvernehmlichkeit zwischen Lenker und Algorithmus ohne ständige Korrektur durch Annäherung Wiederkreise kreieren wird. Die durch X hoch X entstandenen, nicht rechenbaren und nicht darstellbaren Möglichkeiten, die sich bei logischer Abbildung ergeben, gründen ihre Voraussagbarkeit auf Redundanzen sowie Gewohnheiten. Da ist es tatsächlich übergriffig, dass nach dem X hoch X die 21 kommt. Aber wer erklärt das der Numerik?

  • Bene Traitor sagt:

    Ja. Sehr intelligent dieses 4-Hand Kondom. Dann wird halt aus Bequemlichkeit ganz auf das Kondom verzichtet. Ist ja nicht so, dass die Dinger jetzt schon von vielen als lästig gesehen werden, da kann man nochmal eins draufsetzen.

  • Scout sagt:

    Wenn es heisst, man müsse freiwillig, entspricht das nicht dem Consent Condom. Der Wille wird vor dem Öffnen-„Müssen“ gebildet. Dass es nur zu zweit funktioniert, ist nur eine Technik, die angewandt wird, nachdem sich das Einvernehmen konstituiert hat. Und genau dieses Einvernehmen hindert nicht, dass es nach dem Öffnen doch noch zu Meinungsverschiedenheiten kommen könnte. Das läge indes nicht am Kondom. Die Technik „drosselt“ zugegebenermassen, aber der Vorangang der Willensbildung zum Müssen ändert sich nicht. Wenn Frau und Mann ein Kind zeugen wollen, „müssen“ sie auch „funktionieren“. Manche sagen, aus dem Sein folge ein Sollen („rechts“; verpönt), und aus dem Sollen ein Sein („links“; akzeptiert). Žižek könnte eher links sein. Kunststück, droht Melancholie bei Sollens-Verlust!

  • Helene sagt:

    Da fragt sich nur noch: wenn der Partner beim Kondom nicht mitmacht, muss ich dann freiwillig ohne Kondom wollen?
    Mir scheint das hier eher analog dazu zu sein, wenn gewisse Leute die Redefreiheit beschwören, um anderen den Mund zu verbieten oder sich auf Religionsfreiheit berufen, um ihre Religionsvorschriften zu allgemeinen Gesetzen zu erheben (und damit die Religions- und anderen Freiheiten des Anderen zu verletzen): hier wird mit dem Begriff „Consent“ manipuliert um die Selbstbestimmung des Anderen (nicht ohne Kondom Sex haben zu wollen) zu beschneiden.
    Laurie Penny hat mal sehr treffend geschrieben, „consent is not a thing […], consent is a state of being […] an interaction between two human beings“. (https://longreads.com/2017/10/10/the-horizon-of-desire/).

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