Flirten im Auftrag

Wann waren Sie das letzte Mal im Museum?

«Too long; didn’t read»: Zeitdruck und Versäumnispanik prägen den Alltag.  (Foto: iStock/Montage: Kelly Eggimann)

Ein Zeichen unserer Zeit und auch der zeitgenössischen Konsumkultur, meine Damen und Herren, ist die Veränderung des Einzelnen durch die Diskrepanz zwischen realem Ich und virtuellem Ich. Das sagt der britische Konzeptkünstler Ryan Gander, der übrigens eine Interpretation von Instagram als Über-Ich im Freudschen Sinne (also: Idealversion des Selbst eingebettet in den Kontext ihrer gesellschaftlichen Entsprechungen) angeregt hat. Jedenfalls bei mir. Doch ich schweife ab. Fest steht, auch dies eine Beobachtung von Gander, dass wir heutzutage zunehmend weniger von «Seele» reden und zunehmend mehr vom «Selbst». Und ebenjener Graben zwischen dem Selbst IRL (= in real life) und seinen mannigfachen virtuellen Widerspiegelungen wird konsumtechnisch auf vielfältigste Weise ausgefüllt und nutzbar gemacht.

Ein interessantes Beispiel dafür ist ein Online-Service namens Vida (das steht für «Virtual Dating Assistants»). Männer und Frauen (aber vor allem Männer) aus der ganzen Welt bezahlen diesen Dienst dafür, dass er den Stress, die Fallstricke und Widrigkeiten des Online-Datings für sie bewältigt. Das heisst: Statt des Kunden oder der Kundin selbst sprechen bzw. flirten professionelle Agenten (sogenannte «Closer») mit potenziellen Dates auf Online-Plattformen wie Tinder. Natürlich ohne, dass diese potenziellen Dates wissen, dass sie es mit einem beauftragten Stellvertreter zu tun haben.

Nur nichts verpassen!

Die typisch spätmoderne Grundhaltung dahinter verdeutlicht folgendes typisch spätmodernes Akronym: TLDR. Das steht für: «too long; didn’t read». Die Leute haben keine Zeit mehr, um soundsoviele Datingplattformen simultan zu bewirtschaften, oder keine Aufmerksamkeitsspanne oder keine Nerven. Aber niemand will was verpassen. Am Beginn der Moderne, so schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer in ihrem überaus lesenswerten Buch «Das Leben als letzte Gelegenheit», wird das Leben als biologische Lebensspanne konstituiert: Es wird zur einzigen und letzten Gelegenheit; nicht für die Rettung der Seele, sondern für die Anhäufung von Lebenskapital, von Erfahrung, von Sinn. Das Leben gerät unter das Gesetz des Selbst und der Akkumulation. Es wird panisch. Neben den Tod tritt ein anderer, beinahe noch ärgerer Widersacher: das Versäumnis. Also stellt man Landschaftgärtner an und Hundeausführer und Auftragsflirter. Auftragsverhältnisse nehmen zu. Die Digitalökonomie ist nicht zuletzt eine Auftragsökonomie.

Irgendwas scheint dabei auf der Strecke zu bleiben. Einen Hinweis darauf lieferte neulich der Kunsthistoriker Richard Clay, der das scheinbare Paradox beleuchtete, warum in Zeiten der virtuellen Bilderflut die Museen mehr Besucher verzeichnen als je zuvor. Wieso? Womöglich, weil den Besuchern der museale Kunstkonsum IRL in eine archaische Grundkonstellation des Betrachtens zurückversetzt, die das Gegenteil des allseits und ständig propagierten Dispositivs des kreativen Menschen verkörpert: den rezeptiven Menschen. Im richtigen Leben. In Zeiten von LOL-Katzen und Cat-Memes die Eins-zu-Eins-Begegnung zum Beispiel mit dem mutmasslichen Selbstporträt von Jan van Eyck von 1433: Der Mann mit rotem Turban. 600 Jahre blicken durch die Zeit, alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, für einen Moment, vor dem Ewig-Menschlichen. Und dann schnell noch ein Selfie? Nein, danke, nicht nötig.

2 Kommentare zu «Flirten im Auftrag»

  • Rolf Rothacher sagt:

    Ich denke nicht, dass sich der Mensch tatsächlich „selbst“ am verlieren ist. Die „Aufregungen“ der Zeit sind von ihm zwar noch nicht verdaut (das brummende Handy macht ihn weiterhin gespannt/nervös). Doch das ist bloss eine Sache von Zeit.
    Wir haben den Buchdruck, das Zeitungswesen, das Radio und das Fernsehen glücklich in unseren Alltag eingebunden, ohne dass sie uns noch „elektrisieren“ könnten. Dasselbe wird mit dem Internet passieren. Schon die heutigen Kinder werden weitaus entspannt damit leben können, d.h. zwei Generationen mögen sich noch aufpeitschen lassen, die dritte findet wieder ihren Frieden und damit ihre Mitte. Positiv denken. Es geht weiter aufwärt.

  • Kristina sagt:

    Ein wunderbares Beispiel. Gar das Eindrücklichste. Mann mit dem roten Turban.

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