Baldwin, jetzt!

5 Gründe, sofort James Baldwin zu lesen.

«Wer andere erniedrigt, erniedrigt sich selbst»: Autor James Baldwin. (Foto aus dem Jahr 1985: Ulf Andersen/Getty Images)

Einer der bewegendsten Momente der Oscars war der, als Regina King in ihrer Dankesrede den Schriftsteller James Baldwin würdigte. King gewann den Preis als beste Nebendarstellerin für den Film «If Beale Street Could Talk», basierend auf Baldwins Roman «Beale Street Blues» von 1974. Das Gesamtwerk von James Baldwin erscheint gerade wieder auf Deutsch, verdankenswerterweise nach «Von dieser Welt» und «Beale Street Blues» jetzt aktuell ein Essayband mit dem Titel «Nach der Flut das Feuer» (das Original «The Fire Next Time» erschien 1963). Baldwin setzt sich hier, wie in all seinen Werken, mit dem strukturellen Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft auseinander. James Baldwin ist ein klarer Denker, er steht für Eigenverantwortung und Selbstaufklärung, darin liegt die Kraft und Leidenschaft seiner Texte. Ich möchte, dass Sie ihn lesen, meine Damen und Herren. Denn: 

  1. Wir erleben zurzeit, wie die salonmarxistische Agitation der 70er-Jahre eine Renaissance erfährt, befördert von französischen Autoren wie Didier Eribon und Edouard Louis, der von Hass und Rache redet. Gegen derart autoritäres Denken in Kategorien wie Identität und Klasse hilft Baldwin, der stattdessen in Begriffen wie Individualität und Autonomie denkt.

  2. In seiner Analyse des Rassismus widmet sich Baldwin auch immer wieder der ambivalenten Rolle des organisierten Glaubens bei der Fortschreibung der Unterdrückung: Die Religion leistet Sinnstiftung, stärkt soziale Bindungen und ermöglicht Entlastung bei traumatischen Erfahrungen, zementiert aber auch repressive Normen, begünstigt fatalistische Einstellungen und verführt zu moralischer Selbstgerechtigkeit.

  3. In «Nach der Flut das Feuer» schreibt Baldwin: «Wenn Gott als Idee überhaupt einen Wert oder Zweck hat, kann es nur der sein, uns grösser, freier und liebevoller zu machen. Wenn Gott das nicht schafft, ist es an der Zeit, ihn loszuwerden.»

  4. Zur Lösung des Rassismus-Problems sagt Baldwin: Es geht zunächst nicht darum, die anderen anders zu sehen, sondern sich selbst anders zu sehen. Man muss seine eigenen Erwartungen und Vorstellungen an der Vernunft überprüfen. Alle beteiligten Seiten müssen das, unabhängig von ihrer Hautfarbe.

  5. Spürbar bei Baldwin ist: Zuversicht. Kämpferische Zuversicht, aber Zuversicht. Zuversicht statt Hass und Rache. Denn: «Wer andere erniedrigt, erniedrigt sich selbst.»

6 Kommentare zu «Baldwin, jetzt!»

  • Antoin sagt:

    Herr Tingler,
    Obwohl ich Eier in all ihren Formen und Zubereitungsarten liebe, nähren mich Ihre sonntäglichen Gedanken nachhaltiger…
    DANKE!

  • Arnold Schmidt sagt:

    Wenn Sie mir eine Frage gestatten – könnten Sie mir darlegen, warum bzw auf welcher Basis Sie die Kategorie der Klasse mit Autoritarismus verknüpfen? Es liest sich angenehm flüssig, aber inhaltlich habe ich Mühe, Ihre Schlüsse nachzuvollziehen.

  • Peter Huber sagt:

    Sie mokieren sich über die Renaissance der salonmarxistischen Agitation der 70er-Jahre mit ihrer akteur- bzw. menschenblinden, starren Klassenrhetorik und antworten darauf mit einer strukturblinden Verherrlichung des freien Menschen. Damit reproduzieren Sie das Patt der Scheinalternativen, in dem sich das politisch-ökonomische Denken des 20 Jhd. verloren hat. Es ist doch nicht zu übersehen, dass die ökologische, soziale und politische ‚Schieflage‘, in die der individualistische, strukturblinde Kapitalismus geraten ist, ein System (Struktur) ist, das Individuen immer mehr in den Individualismus treibt, so dass eine Korrektur nur in einem besseren Verständnis der Beziehung zw. ‚Struktur‘ und Individuum und in einer ‚System‘ und Individuum besser vermittelnden Politik bestehen kann.

  • markus schmid sagt:

    danke herr tingler, dass sie uns herr baldwin näher bringen. statements, die zeigen, wohin es gehen kann, wenn wir uns entschliessen, eine gute zukunft zu haben.

  • Scout sagt:

    Zu 3: Was Baldwin in diesem Buch postuliert, ist eine umgekehrte Theodizee und zeigt die Verkehrtheit und Absurdität des biblischen Mythos des Sündenfalls. Der gefallene Luzifer, die sprechende Schlange sowie Adam und Eva müssen über eine Disposition des Schlechten und des Ungehorsams verfügt haben. Von wem kam diese Disposition? Sie kann nur von Gott mitgeschöpft sein. Gott hat selbst den ganzen Schlamassel samt Verbannung aus dem Paradies verursacht, da der freie Wille noch nicht bestand. Baldwin verlangt folgerichtig die Wiederherstellung des Paradieses, und wenn das nicht möglich wäre, die Entledigung eines solchen Gottes. Dass auch ein Mythos einer inneren Logik bedarf, ist m.E. zwingend. Und im Gegenzug starb Jesus qualvoll am Kreuz. Da ist mir Jom Kippur lieber.

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