Ich bin, was ich habe

Wir schlagen Diderot. Oder nicht?

Dandies und andere Lebenskünstler wählen Dinge darum aus, weil sie nicht ins Muster passen. Foto: iStock, Montage: Kelly Eggimann

Ich muss noch mal auf den Diderot-Effekt zurückkommen, meine Damen und Herren. Sie erinnern sich doch? Bei diesem nach dem französischen Philosophen und Aufklärer Denis Diderot benannten Zusammenhang zwischen Identität und Besitz geht es darum, dass die Erfüllung eines (vermeintlichen) Bedürfnisses neue Bedürfnisse nach sich zieht. Denn der Mensch, der sich mit seinen Dingen identifiziert, wünscht sich Kohärenz, ein stimmiges Dasein, Ich-Konsistenz.

Also: Sie erwerben beispielsweise ein paar Crossfit-Lektionen. Und brauchen dann infolgedessen natürlich auch noch Crossfit-Schuhe und Crossfit-Knieschoner. Sowie einen massgeschneiderten paleodiätetischen Ernährungsplan. Zum Teil benötigen Sie diese Dinge aus praktischen Gründen, vor allem aber auch, um Ihr neues Crossfit-Ich auszubauen, also im Sinne einer kulturellen Kohäsion der Dinge als lebensweltliches Ganzes. Ich-Konsistenz, eben.

Der Anthropologe Grant McCracken bezeichnete Ende der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts (rund 200 Jahre nach Diderot) den Kosmos der Dinge als sinnstiftendes Ganzes um einen Besitzer herum als «Diderot-Einheit». Üblicherweise, so McCracken, wirke der Diderot-Effekt defensiv: Die Menschen nähmen eher eine Abwehrhaltung ein gegenüber Produkten (und auch Ideen), die ihre Diderot-Einheit infrage stellen. Gegen ebendiese Diderot-Panik wirbt beispielsweise ein hiesiges Möbelkettengeschäft mit dem Slogan «Passt zu allem, was Sie schon haben.»

WC-Papier als Statussymbol

Allerdings stammt McCrackens Analyse eben aus der sogenannten Postmoderne. Inzwischen leben wir in der durch Digitalisierung und Globalisierung gekennzeichneten Spätmoderne. Und diese dürfte eher die massenhafte Durchsetzung einer anderen Diderot-Strategie erleben, die übrigens auch McCracken schon erwähnte: Statt umfassenden Folgekäufen oder der vorausschauenden Konsumvermeidung gibt es nämlich auch noch die Möglichkeit des kreativen Durchbrechens von Diderot-Einheiten: Dandies und andere Lebenskünstler wählen Dinge gerade darum aus, weil sie nicht ins Muster passen.

Für «Dandies und andere Lebenskünstler» setzen Sie bitte heute ein: Hipster. Der Hipster muss kreativ sein. Kreativität ist schliesslich ein Imperativ unserer Tage, auch im Konsum, und das Besondere, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz, sei der neue soziale Leitwert, der zum Gegenstand von Auseinandersetzungen der Bewertung und Entwertung werde.

Reckwitz sieht in dieser Leitfunktion der Besonderheit eine epochale kulturelle Verschiebung. Der neue Geltungskonsum ist das, was das Besondere ist. Interessant ist dabei nicht zuletzt, dass das Phänomen der Statusaufladung auf viel mehr Güter ausgreift, also viel mehr Konsumakte, auch solche, die früher banal und alltäglich waren, heute mit Statusbotschaften verknüpft sind, Geltungskonsum darstellen.

Sie können Besonderheit heutzutage mühelos mit der Auswahl von Kaffee, Salz oder Klopapier signalisieren. Und kunstvoll nach Art der Boheme mit dem kreativ ausgewählten Klopapier Ihre Diderot-Einheit durchbrechen. Natürlich wird auch in dieser Strategie der kreativen Durchbrechung das Individuum über Dinge definiert. Und selbstverständlich wählt auch der kreative Hipsterbohemien seine Besitztümer nicht wahllos aus, bewahre.

So können wir endlich einen ganz neuen, vierten Diderot-Effekt feststellen: Ich muss dringend ganz viele neue Sachen anschaffen, weil meine bestehenden Besitztümer zu kohärent zusammenpassen. Hilfe.

10 Kommentare zu «Ich bin, was ich habe»

  • Boris Laplace sagt:

    Da die Postmoderne leider nicht die erwünschte Freiheit des Individuums verwirklichen vermochte, versucht der Hipster nun die Verwirklichung seiner ersehnten Freiheit bloss noch allein durch das Ausleben seiner nach aussen gestülpte plakativ zur Schau getragenen Différance, die zwar einerseits einen Mangel darstellt, anderseits aber auch hoffen lässt, dass die gesellschaftliche Bewegung nach Freiheit so schnell nicht erstarren wird. Eine Verlagerung vom blossen äusseren Konsum zur inneren Geisteshaltung wäre dabei allerdings mehr als wünschenswert.

    • Scout sagt:

      Ausgerechnet die Hipster wecken die Hoffnung, „dass die gesellschaftliche Bewegung nach Freiheit so schnell nicht erstarren wird“? Bewegung ja, aber sie muss nicht zwingend nach Freiheit streben; das Gegenteil könnte der Fall sein. Auch das Gesellschaftliche steht beim Hipster in Frage. Na gut, dessen Ziel wäre der Outstream, faktisch ist er aber in der Menge doch Mainstream. Zudem: Wie gross ist der Mangel? Ontologisch gesehen darf er nicht unendlich sein, denn dann wären wir bei Schellings Subjekt, der diesfalls jegliches Ausserhalb von des Subjekts Selbst leugnet. Also wäre der Mangel endlich und messbar, aber doch aufschiebend. Weder die Zurschaustellung des Hipsters noch die sich durch und durch stets aktualisierende Gesellschaft sind so möglich und unmittelbar verstehbar.

  • LiFe sagt:

    Ich bin, was ich habe…….Kreativität. D.h. eigene Ideen, eigene Projekte, Visionen. Und das ist gut. Wenn sie auch nicht umsetzbar sind. Noch oder gar nicht. Passt scho.

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