Erleben wir digitalen Sexismus?
Vor hundert Jahren starb in Strassburg Georg Simmel, meine Damen und Herren, den der akademische Betrieb stets nur sehr zurückhaltend als «Philosoph» bezeichnet hat (eher noch als «Soziologen»), was wohl auch daran liegt, dass einige Vertreter dieses Betriebs an Simmels Werk die Systematik vermissten. Denn Georg Simmel, der sich selbst durchaus als Philosoph verstand, ging stets von der Lebensplastizität aus, von Phänomenen der Alltagswelt, «dem einfach Gegebenen», zum Beispiel in seiner «Philosophie des Geldes» aus dem Jahre 1900, worinnen er sich, seiner Zeit voraus, unter anderem bereits mit der Ökonomie zwischenmenschlicher Beziehungen befasst (was man dann im 21. Jahrhundert «Spousonomics» nennen sollte).
Hundert Jahre später also sitze ich mit Alice Schwarzer auf der Bühne des Berner Stadttheaters und erkundige mich nach ihrer Bewertung eines Phänomens unseres Alltags: Die spätmoderne Konsumwelt wird immer mehr von digitalen Assistenten mit Sprachsteuerung geprägt, zum Beispiel Siri oder Alexa. Und mit der Ausbreitung dieser Assistenten setzt sich eine bestimmte Form der Kommunikation massenhaft durch, nämlich die Herrschaft-Diener-Kommunikation, vorher eher bestimmten Sphären vorbehalten, dann vorübergehend im Aussterben begriffen, nun, wie gesagt, auf dem Weg, der neue Standard zu werden.
Allgegenwärtige Gerätschaften
Gleichzeitig jedoch erleben wir eine Rückkehr des archaischen Denkens, des Animismus. Also des Glaubens daran, dass die Dinge beseelt seien, über einen Geist verfügten. Dieser Glaube bezieht sich ganz besonders auf jene allgegenwärtigen elektronischen Gerätschaften, die auch unser Verständnis der Welt, unsere Wahrnehmung prägen, und deren Beseelung wiederum hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass man die Funktion dieser Objekte nicht mehr unmittelbar an ihrer Form ablesen kann, was besagte Objekte weniger verständlich und beherrschbar macht. Die spätmodernen Maschinen sind zugleich offen in ihren Möglichkeiten und undurchsichtig in ihrer Funktion.
Nun ist es ja ebenfalls ein alltagskulturelles Phänomen, dass besagte digitale Assistenten in aller Regel weiblich konnotiert sind, weibliche Namen tragen und weibliche Stimmen haben. Was eventuell damit zusammenhängt, dass 80 Prozent aller Software-Entwickler männlich sind. So fragte ich Alice Schwarzer: Erkennen Sie in dieser digitalen Dienstbotenschaft eine neue Form von Sexismus?
Kaum Raum für Fortschritt
Alice Schwarzer ist der Meinung: Rückschritte passieren. Was uns wieder zu Georg Simmel bringt. Der hat nämlich auf seinem pfadfinderischen Weg in die Philosophie auch eine Monografie über Arthur Schopenhauer veröffentlicht. Schopenhauer pflegte bekanntlich hinsichtlich der Beziehung zwischen den Geschlechtern (aus spätmoderner Perspektive kann man getrost hinzufügen: welcher Art auch immer) eine wesentlich pessimistischere Perspektive. So schrieb er in §60 seines Hauptwerkes «Die Welt als Wille und Vorstellung» (1819): «Die Genitalien sind viel mehr als irgendein anderes äusseres Glied des Leibes bloss dem Willen und gar nicht der Erkenntnis unterworfen.»
Da wäre dann wenig Raum überhaupt für den kleinsten Fortschritt. Wir aber halten es bei der Verbindung von Alltagsphänomenen mit Fortschrittsfragen dann doch lieber mit Simmel selbst, der es als Aufgabe der Philosophie sah, «von dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Gegebenen, das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken».
17 Kommentare zu «Erleben wir digitalen Sexismus?»
Viel Pathos, wenig Inhalt, was Simmel verbreitete. Auch wird der Entscheid, ob männliche/weibliche Stimme, bestimmt nicht von den Software-Entwicklern gefällt. War zwar ne reizvolle Frage an Alice Schwarzer, gleichzeitig war ihre stereotype Antwort ja auch so oder so ähnlich zu erwarten. Kein echter Gag.
Sex ist nach Atmen, Trinken, Essen der wichtigste Drang in der Natur (beim Menschen kommen je nach Ort nach Kleidung und Wohnung zum Warmhalten hinzu). Was Schoppenhauer da schrieb, ist zwar richtig, doch belanglos, weil naturgegeben. Wer nachhaltige Konzepte entwerfen will, kann sie nicht völlig gegen die Natur entwickeln. Deshalb im Christentum auch die Möglichkeit der Sünden-Vergebung. Wird der Mensch völlig gezähmt, vom Raubtier zum Herdenvieh oder gar zur Ameise, stirbt er aus.
Die Tramhalteansagen werden von Frauen vorgelesen, allfällige Gleis Änderungen im Hauptbahnhof, Aufrufe am Flughafen, alles Frauenstimmen. Mach die Welt schöner und gib mir sonore Tenoren!
Zur „Herrschaft-Diener-Kommunikation“: War früher der Diener ein Mensch, ist er heute eine Sache. Sicher? Einen Austausch mittels Social Media gibt es nicht, denn die angebliche Kommunikation findet ohne körperliche Nähe statt. Unmittelbare Reaktionen, Unterbrechungen oder Beobachtungen von Mimik und Gestik durch den Angesprochenen, was alles zum Austausch gehört, gibt es nicht. Es fehlt die „Seele“ des Gesprächs. Und das ist vielleicht mit ein Grund, dass Smartphones ersatzweise beseelt oder kultiviert werden. Die z.T. schwierige Handhabe verstärken den Wunsch, das Gerät zu beherrschen. Dieser Drang entwickelt sich in eine eingebildete Herrschaft gegenüber der angeklickten Person, die so zum Diener wird, mit dem man sich ja noch nie austauschte. Dem gibt man nur Anweisungen.
(Denkt angestrengt nach, guckt zur Seite und wieder zurück und sagt) `Rückwärts parkieren?`
Hmm, wenn man für diese Applikationen, die dem Benutzer ja sagen, wann er was zu tun hat, wo er lang zu gehen hat und überhaupt wie sein Tag strukturiert ist – alles in bester unterstützender Absicht natürlich – eine männliche Stimme verwenden würde, dann käme der Vorwurf des Mansplaining doch ziemlich rasch auf. Die Vewendung einer weiblichen Stimme nimmt diesem potentiellen Vorwurf die Nahrung und maskiert damit auch die Macht, die diese Applikationen über ihre Nutzer entwicklen. Oder so…..