Das Instagram-Gesicht

Über Schönheit im Zeitalter ihrer elektronischen Manipulierbarkeit.

Virtuosin beim Grenzenverwischen zwischen Virtualität und Realität: Kylie Jenner. (Montage: Laura Kaufmann/Foto: Reuters)

Die Wirtschaftswissenschaften sind, wie andere Sozialwissenschaften auch, eine Erzählung, meine Damen und Herren: ein narrativer Rahmen, der Daten mit Geschichten darüber verbindet, wie die Welt funktioniert. Oder funktionieren sollte. Die Kohärenz der erzählten Welt und die Vernünftigkeit des Daseins stehen auf dem Spiel, es geht um den Bestand von plausiblen Wirklichkeiten. Und wie für alle Narrative, so gilt auch hier: Wenn die Story stimmt, können eine Menge der vermeintlichen Fakten falsch sein. 

Eine solche Erzählung ist die Ökonomie der Selbstvermarktung, die unsere Tage kennzeichnet: Zurschaustellung des Ich, Dopamin-Rausch der Instant-Bestätigung, Selbstoptimierung, Hyperperfektion, Insta Face. Wie bitte? Insta Face? Ja, Sie haben richtig gelesen: das ist ein Phänomen. Das Instagram-Gesicht, fachsprachlich «Insta Face» oder schlicht «The Face», popularisiert durch die Kardashians und lernbar in unzähligen Online-Tutorials, wird beschrieben durch einen porenlosen Teint, gemeisselte Wangenknochen, grosse katzenartige Mandelaugen und noch grössere Lippen.

Per Kriegsbemalung zur Uniformität

Diese Beschreibung stammt von einer jungen Dame, die besagtes Gesicht, gedacht für optimale Selfies auf Instagram, eine Woche lang im Selbstversuch für die BBC anwandte, und zwar «IRL» ( = «in real life»). Keine einfache Übung, denn für das Insta Face benötigt man eine spezielle Make-up-Technik, genannt «Baking». Es handelt sich eigentlich mehr um eine Maske denn um ein Gesicht, es wird im engeren Sinne aufgemalt, in einem zeit- und materialaufwendigen Verfahren. Der Materialaufwand macht das Insta Face zu einem guten Geschäft, zum Beispiel für die 21-jährige Proto-Milliardärin Kylie Jenner, eine Virtuosin der Verwischung der Grenzen zwischen virtuellem und richtigem Leben.

Das Insta Face ist nicht tageslichttauglich, die Sonne zerstört es, es gleicht eher den Make-up-Konturierungstechniken des alten Hollywood, fürs Scheinwerferlicht, und muss tagsüber, IRL, ständig patrouilliert und aufgefrischt werden, sonst zersetzt es sich. Das Ganze erinnert an eine Art Kriegsbemalung. Wofür oder wogegen der Krieg geführt wird, ist nicht ganz klar, fest steht: sein Ziel ist Uniformität. Es ist ein faszinierendes Paradox unserer Tage, dass ein prominenter Soziologe wie Andreas Reckwitz von der «Gesellschaft der Singularitäten» spricht, die nur noch das Besondere wertschätze – während Heerscharen auf Instagram danach streben, ihre visuelle Repräsentation möglichst unauffällig und homogen zu gestalten. Das Insta Face zeichnet sich eben gerade aus durch die Abwesenheit von Eigenarten, Asymmetrien, Besonderheiten: wenig Nase, keine Falten, weder jung noch alt, sondern: alterslos.

Vom Uniface zur Teenager-Realität

Einige erkennen in diesem Uniface einen chauvinistischen Zwang oder die Pornografisierung der Gesellschaft. Andere stellen die Frage, was die gefühlte Notwendigkeit, das reale Gesicht dem virtuellen anzupassen, eigentlich mit all den prägbaren Teenagern da draussen macht? Die Kundschaft für plastische Chirurgie wird jünger. Fest steht, dass sich im Insta Face eine konsumtive Trivialisierung des Schönheitsempfindens ausdrückt: Wenn das Fehlen von Eigenarten und Eigenartigkeiten ein Schönheitsideal vorstellt, wird Schönheit ex negativo verstanden, resultiert also aus der Abwesenheit dessen, was als unschön empfunden wird. Das ist metaphysisch verkürzt. Irgendjemand muss das mal Kylie Jenner sagen. Ich fürchte bloss, es ist ihr wurst.

6 Kommentare zu «Das Instagram-Gesicht»

  • Edi sagt:

    Seit Langem versuche ich, den Idealismus mit dem Realismus zu vereinen. Hier haben wir eine Frau, die angeblich nur dem Realismus folgt, zumal ich, als ich den Blog mit der Foto aufschaltete, dachte: Was ist das für eine schöne Frau! Ja, die Maskerade ist künstlich. Alsdann wäre Künstlichkeit vom Idealismus gar nicht so weit entfernt. Moralische Vorwürfe sind wegen des Seins unberechtigt. Ist es eine Art von Kitsch oder Trash? Nur daraus lässt sich kein Nihilismus ableiten, eben genau wegen des Realen (Susan Sontag). Diese Frau folgt einem Ideal, welcher Art auch immer. Sie setzt ihr Ideal in die Realität um und erntet Bewunderung, die besonders ist, da es zuviele Leute gibt, die dem nicht folgen. Ist Idealismus endlich ein unzulänglicher Bewältigungsversuch des Realismus?

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