Semantische Nischen

Und andere Rückzugsmöglichkeiten.

Modeerscheinung oder sprachliche Neuschöpfung: Fashion-Bloggerin Sarah Benziane im «Célfie»-Shirt. (Foto: Getty Images)

Wissen Sie, was «Candids» sind, meine Damen und Herren? Oder ein «Celfie»? Ganz einfach: Belege dafür, dass die Sprache sich entwickelt; in Übersee und auch hier, wo man, besonders in allen Belangen von Digitalität und Technologie, sprachlich in der Regel Übersee folgt. «Candids» zum Beispiel sind Fotos von Menschen, die ohne deren Wissen geschossen werden, während «Celfie» einfach eine alternative Schreibweise von «Selfie» darstellt, womöglich mit Bezug auf «cellphone». «Candids» existiert schon länger, wurde bisher selten benutzt, nun aber taucht es immer öfter auf.

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum neue Worte sich durchsetzen. Ein wichtiger Faktor ist schlicht ihre Länge; kürzere Ausdrücke oder gar Akronyme sind schneller zu lesen und vor allem zu tippen. Ein weiterer Bestimmungsgrund für die Durchsetzungsfähigkeit von Neologismen ist die sogenannte semantische Nische (analog zur ökologischen Nische): Ein Ausdruck hat höhere Überlebensfähigkeiten, sofern er keine Benennungskonkurrenten bzw. direkten Synonyme hat, also keine anderen Wörter existieren, die exakt dasselbe bezeichnen. Hier kommen ein paar Beispiele: 

  1. Das Eigenschaftswort «baeless» ist ein Beispiel für eine popkulturelle Neuschöpfung, die es schwerer hat, sich durchzusetzen, weil sie in direkter Bedeutungskonkurrenz zum Adjektiv «single» steht.

  2. Selbst bei gängigen Akronymen wie «LOL» wissen nicht alle Benutzer, wofür sie überhaupt stehen. «IDGT» ist neu und steht für “I don’t get tired”, zurückgehend auf den Rapper Kevin Gates.

  3. Falls Sie direkt wie aus New York zu klingen wünschen, weil Sie zum Beispiel beim Radiosender «Virus» arbeiten: «litt» ist das neue «cool».

  4. Mein persönlicher Favorit für den schriftlichen Verkehr: «Amirite?». Das ist die kondensierte Form von «Am I right?»

  5. Mehr als ein Wort, nämlich eine ganze Sprachrichtung und zugleich ein Beispiel dafür, wie einzelne Charaktere die Kulturentwicklung befördern, ist jener Jargon, den Andy Hamilton neulich auf der BBC als «Trumpish» bezeichnet hat, definiert als: «English with all meaning taken out». Einige typische Wendungen dieser Diktion finden sich in Trumps Attest seiner Gesundheit, zum Beispiel: «astonishly excellent». Doch auch in der Sprache des Politikbetriebs hat Trump ganz neue Formeln eingeführt, etwa: «Wir werden sehen.»

9 Kommentare zu «Semantische Nischen»

  • Philipp M. Rittermann sagt:

    ich glaube sowas zeigt einzig und alleine die fehlende affinität der generation xy zu rechtschreibung und grammatik auf. weil „influencer“ ähnliche symptome zeitigen wie die influenza. ein viraler infekt. nutzlos zwar, aber periodisch auftretend mit epidemischen auswirkungen auf arbeitsscheue und deren labile netz-kommunen. man nennt das auch „das follower-syndrom.“ zeitgeist.

  • P Glotz sagt:

    Auf Alcatraz gibt es auch den Begriff Cellfie.

  • Margrit Ryssel sagt:

    Mir gefällt zZt die Beleidigung „Honk“. Es ist so schön kurz und knapp, das Beleidigende wird schon rein phonetisch wirksam und die weibliche Version („Honkin“) klingt schon fast original chinesisch/koreanisch.

  • Thomas sagt:

    Herr Doktor: Célfie hat wahrscheinlich mehr Bezug auf Céline, als auf cellphone..
    Manchmal kurz nachschlagen, bevor irgendwas behauptet wird..

  • Rebecca sagt:

    Célfie > ein Selfie im Céline-T-Shirt, würde ich meinen…also Philipp… 🙂

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