Keine Angst vor Lügen
Medienkonsum verlangt Medienmündigkeit, meine Damen und Herren, besonders heutzutage, wo die sogenannte Diskursöffentlichkeit gekennzeichnet ist durch Phänomene wie «Empörungskybernetik» und «Emotionsindustrie». Das sind Begriffsprägungen aus dem Buch «Die grosse Gereiztheit» des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Pörksen zufolge besteht das Paradox der digitalen Wahrheitsordnung darin, dass sie gerade aufgrund ihrer Offenheit und einfachen Formbarkeit durch Technologien die kognitive Schliessung und Selbstdogmatisierung erlaube. Mit anderen Worten: Neu ist nicht, dass gelogen wird. Neu ist vielmehr, wie Wirklichkeit entworfen wird, nämlich essenziell durch technische Abläufe, Algorithmen, die der Benutzer, der quasi an ihrem Ende sitzt, weder durchschaut noch kontrolliert. Es handle sich, so Pörksen, um eine unsichtbare, nur in ihren Effekten erfahrbare und nicht in ihrer Prozesshaftigkeit nachvollziehbare Kuratierung von Wirklichkeit, zum Beispiel durch die Algorithmen von Suchmaschinen. Soll heissen: Die Türsteher zwischen der Wirklichkeit und ihrem Abbild sind intransparent, verborgen.
Aufgewärmt oder freiheitsfeindlich
Und hier beginnt die Bildungsaufgabe, die Erziehung zur Medienmündigkeit. Pörksens konkrete Bildungsutopie besteht in der Idee der sogenannten redaktionellen Gesellschaft, und die geht lapidar formuliert so: Wir alle sollen uns im Umgang mit Informationen wie professionelle Journalisten benehmen. Also: Quellen prüfen, Fakten kontrollieren, Kontext würdigen. Das Problem mit diesem Ansatz ist: Entweder es handelt sich um eine Aufwärmung von Diskursethik und Falsifizierungsrationalismus für die öffentliche Debatte, versteht also Wahrheit als Verfahrensfrage, dann ist das zwar richtig, aber überflüssig, weil eben: aufgewärmt. Oder aber das sogenannte redaktionelle Bewusstsein soll sämtliche Alltagsdiskurse erfassen, dann haben wir es mit moralischem Totalitarismus unter dem Anschein der Methodenbindung zu tun, gespeist aus einer geradezu kryptoreligiösen Phobie vor der Lüge. Ein derartig umfassender Moralismus des redaktionellen Bewusstseins wäre freiheitsfeindlich und vernachlässigte die soziale Dimension von Sprechakten.
Rigide Moralhygiene
Denn ein verabsolutiertes redaktionelles Verfahren kennt weder Unbefangenheit noch Höflichkeit noch ambivalentes beziehungsweise uneigentliches Sprechen, also Doppelbödigkeiten zum Beispiel in Form von Ironie. Stattdessen werden Ironie, Transgression und die reservatio mentalis einer rigiden Moralhygiene geopfert – einer Reinheitsvorstellung, die übrigens auch die Lüge als soziales Regulativ negiert. Pörksen betont zwar, dass Wahrheit nie das beherrschende Regulativ der Politik und des sozialen Miteinanders gewesen sei, sein Ideal eines redaktionellen Bewusstseins impliziert jedoch tendenziell zugleich, dass sich Integrität nur über die Verbannung von Lügen herstellen lasse. Das ist falsch. Denn ohne die Lüge (vornehmer: das performative Zurechtlegen von Wahrheiten) keine Aufrechterhaltung von Fassaden, also keine Zivilität. Ambivalentes Sprechen ist ausserdem eben nicht nur manierlich und unterhaltsam, sondern auch seit jeher ein wichtiges Medium der Kritik, gerade unter den Bedingungen der Repression.
11 Kommentare zu «Keine Angst vor Lügen»
2/4 Die andere Alternative hingegen ist m.M. nach ein Popanz/Strohmann, weshalb auch Ausdrücke wie „impliziert“ und „tendenziell“ verwendet werden. Ein Kantscher Rigorismus in allen Bereichen wird ja wohl niemand ernstlich mehr vertreten. Dass der Gebrauch von Lügen aber der Zivilität zuträglich sein kann, weil wir „die Wahrheit doch gar nicht vertragen können“ („Eine Frage der Ehre“, 1992), zeigt auf unterhaltsame Weise der Film „Liar, Liar“ (1997).
3/4 Waren lange Kirchenleute, PolitikerInnen und Medienmachende die massgebenden und hauptsächlichen Sender im öffentlichen Raum, sind es nun mal mit den sozialen Medien potentiell alle BürgerInnen. Dass letztere nicht nur wie Mitmenschen im normalen Zwiegespräch miteinander kommunizieren, sondern eben auch politische Interessen verfolgen oder dogmatisch scheinbare Wahrheiten verkünden, macht es halt doch notwendig, dass alle BürgerInnen sich auch der journalistischen Kompetenzen bemächtigen – um der offenen, aufgeklärten, zivilisierten und demokratischen Gesellschaft willen.
4/4 Dazu gehört auch die Kontextsensitivität, denn Unbefangenheit kann zwar Vorurteilslosigkeit bedeuten, aber auch Hemmungslosigkeit, hinter einem bösen Scherz oder der Ironie eines Trolles können auch böse Absichten stecken. Geht es also um dogmatisches Ideologisieren, politische Agitation oder wirtschaftliche Interessen, sind das Checken von angeblichen Fakten und Überprüfen von blossen Meinungen sehr wohl „ein wichtiges Medium der Kritik, gerade unter Bedingungen der Repression“ und einer Kultur der Lüge im post-faktischen Zeitalter.
Stimmt alles Herr Tingler, und das Buch kann man im Bereich akademische Aufmerksamkeitshysterie (von der Oekonomie zur Hysterie) abbuchen. Was das Krypto betrifft, da glauben viele ambitioniere Mitte-Links Menschen mit subversiv-avantgardistischen Hochanspruch, das Blockchain die völlig transparente demokratische Gesellschaft bringen werde, aber das Beste besteht darin, dass derjenige, das habe ich zumindest gehört, der den finalen Code geliefert hat, gänzlich unbekannt ist, niemand kennt ihn (soll ein Japaner gewesen sein), sodass sich bereits urban Legends und Mythen bilden. Kann ich nicht verstehen, es gibt doch aus der Sicht der Mächtigen nichts besseres als ein System, in welchem Menschen sich völlig selbst und gegenseitig überwachen und das auch noch selber bezahlen. Holismus ahoi!
Bei reservatio mentalis musste ich schmunzeln. Das Lehrbuch zum Römischen Recht behauptet, die reservatio mentalis hätte zum Dissens statt zum Konsens geführt, aber – soweit ich sehe – gibt es keinen Beleg dazu. (Ich lüge nie.) Meine obige Position entspricht jener von Luther zur Lüge, die nicht schaden soll. Es folgte Kant: Das Recht auf Wahrheit und Information wäre gleichzusetzen. Und dann tauchte in der Manualistik die reservatio mentalis, der geheime Vorbehalt, auf. Heute schadet dieser dem Vertrag nicht (§ 116 Abs. 1 BGB), weil dieser die übereinstimmende gegenseitige Willensäusserung erfordert (Art. 1 Abs. 1 OR). Im katholischen Eherecht ist die reservatio mentalis immer noch Ungültigkeitsgrund – nicht erstaunlich, wenn es keine Scheidung gibt.