Keine Angst vor Lügen

Gegen die redaktionelle Gesellschaft.

Auch Lügen braucht es für das Zusammenleben. Bildmontage: Laura Kaufmann

Medienkonsum verlangt Medienmündigkeit, meine Damen und Herren, besonders heutzutage, wo die sogenannte Diskursöffentlichkeit gekennzeichnet ist durch Phänomene wie «Empörungskybernetik» und «Emotionsindustrie». Das sind Begriffsprägungen aus dem Buch «Die grosse Gereiztheit» des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Pörksen zufolge besteht das Paradox der digitalen Wahrheitsordnung darin, dass sie gerade aufgrund ihrer Offenheit und einfachen Formbarkeit durch Technologien die kognitive Schliessung und Selbstdogmatisierung erlaube. Mit anderen Worten: Neu ist nicht, dass gelogen wird. Neu ist vielmehr, wie Wirklichkeit entworfen wird, nämlich essenziell durch technische Abläufe, Algorithmen, die der Benutzer, der quasi an ihrem Ende sitzt, weder durchschaut noch kontrolliert. Es handle sich, so Pörksen, um eine unsichtbare, nur in ihren Effekten erfahrbare und nicht in ihrer Prozesshaftigkeit nachvollziehbare Kuratierung von Wirklichkeit, zum Beispiel durch die Algorithmen von Suchmaschinen. Soll heissen: Die Türsteher zwischen der Wirklichkeit und ihrem Abbild sind intransparent, verborgen.

Aufgewärmt oder freiheitsfeindlich

Und hier beginnt die Bildungsaufgabe, die Erziehung zur Medienmündigkeit. Pörksens konkrete Bildungsutopie besteht in der Idee der sogenannten redaktionellen Gesellschaft, und die geht lapidar formuliert so: Wir alle sollen uns im Umgang mit Informationen wie professionelle Journalisten benehmen. Also: Quellen prüfen, Fakten kontrollieren, Kontext würdigen. Das Problem mit diesem Ansatz ist: Entweder es handelt sich um eine Aufwärmung von Diskursethik und Falsifizierungsrationalismus für die öffentliche Debatte, versteht also Wahrheit als Verfahrensfrage, dann ist das zwar richtig, aber überflüssig, weil eben: aufgewärmt. Oder aber das sogenannte redaktionelle Bewusstsein soll sämtliche Alltagsdiskurse erfassen, dann haben wir es mit moralischem Totalitarismus unter dem Anschein der Methodenbindung zu tun, gespeist aus einer geradezu kryptoreligiösen Phobie vor der Lüge. Ein derartig umfassender Moralismus des redaktionellen Bewusstseins wäre freiheitsfeindlich und vernachlässigte die soziale Dimension von Sprechakten.

Rigide Moralhygiene

Denn ein verabsolutiertes redaktionelles Verfahren kennt weder Unbefangenheit noch Höflichkeit noch ambivalentes beziehungsweise uneigentliches Sprechen, also Doppelbödigkeiten zum Beispiel in Form von Ironie. Stattdessen werden Ironie, Transgression und die reservatio mentalis einer rigiden Moralhygiene geopfert – einer Reinheitsvorstellung, die übrigens auch die Lüge als soziales Regulativ negiert. Pörksen betont zwar, dass Wahrheit nie das beherrschende Regulativ der Politik und des sozialen Miteinanders gewesen sei, sein Ideal eines redaktionellen Bewusstseins impliziert jedoch tendenziell zugleich, dass sich Integrität nur über die Verbannung von Lügen herstellen lasse. Das ist falsch. Denn ohne die Lüge (vornehmer: das performative Zurechtlegen von Wahrheiten) keine Aufrechterhaltung von Fassaden, also keine Zivilität. Ambivalentes Sprechen ist ausserdem eben nicht nur manierlich und unterhaltsam, sondern auch seit jeher ein wichtiges Medium der Kritik, gerade unter den Bedingungen der Repression.

11 Kommentare zu «Keine Angst vor Lügen»

  • Rolf Rothacher sagt:

    Wenn ich redaktionell vorgehen, so ist das kein „moralischer Totalitarismus unter dem Anschein der Methodenbindung“ und auch keine „geradezu kryptoreligiöse Phobie vor der Lüge“, sondern einfach notwendig, um mir ein Bild zu machen. Information über Lügen funktioniert nur für den Sender der Lügen, aber nicht für mich.
    Und wenn es um Zivilität und Lüge (als Fassade) geht, so kann ich nur sagen, dass hier die Wahrnehmung das Problem darstellt: jeder Mensch nimmt anders wahr, d.h. sicher selber und andere. Deshalb ist „die Lüge“ gleich vorprogrammiert. Doch es gibt nun mal auch Fakten und diese können Lügen entlarven. Wer bloss entscheidet, dieser oder jener „Sender“ ist vertrauenswürdig und glaubt, geht in die Falle.

  • Reifers sagt:

    In meiner Wahlheimat wurde eine Sängerin abgestraft, weil sie es wagte, mit einem Witzchen auf eine öffentliche Frage zu antworten. Das Witzchen zielte auf verseuchtes Trinkwasser und das wurde vom Hohen Gericht als Staatsbeleidigung interpretiert. Dabei zeugte die Antwort von Geistesgegenwart und Frische. In meiner Wahlheimat wird sehr oft verhandelt, was gottgefällig und was gottabscheulich sei. Darüber wird vertuscht, dass der eigentliche Diskurs über Gerechtigkeit nicht in Gang kommen will. Also: bitte keine Witze, also bitte immer schön gottgefällig, und dabei geht die Lust an der Freiheit und der Diskurs um Gerechtigkeit vor die Heuschrecken. Was ist Wahrheit? Wer definiert sie?

    • Eduardo sagt:

      „In meiner Wahlheimat …. eine Sängerin …“ — Namen, Reifers, Namen, wenn wir hier schon beim Thema Wahrheit sind 😉

      Aber lassen Sie mich raten: Ägypten und Sherine A….-…..

  • Edi sagt:

    Ein interessanter Text! Vielleicht sollte noch mehr zwischen „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ unterschieden werden. Aber ein Grundsatz ist hier kaum unterzubringen, jenen des neminem laedere, schade niemandem – zum Schutz Dritter. Das kann vom bewussten Schweigen bis zur Falschaussage reichen. Im Sachenrecht gibt es überdies eine überraschende Norm zum Umfang von Dienstbarkeiten im Allgemeinen: „Der Berechtigte ist befugt, alles zu tun, was zur Erhaltung und Ausübung der Dienstbarkeit nötig ist. Er ist jedoch verpflichtet, sein Recht in möglichst schonender Weise auszuüben“ (Art. 737 Abs. 1 und 2 ZGB). Diese schonende Rechtsausübung strahlt bis in die Rechtsprechung zum Rechtsmissbrauch aus. Zwar ist Recht und Moral zu trennen, aber Analogien zum Recht sind möglich.

  • Didi Herrmann sagt:

    Die Lügenmedien lügen, dafür werden sie bezahlt, damit verdienen sie ihr Geld. Nicht wirklich etwas Neues.

  • Benjamin Kraus sagt:

    1/4 Tinglers Ablehnung von Pörksens „redaktionellen Gesellschaft“ beruht m.M. nach auf einer falschen Alternative. Denn nur weil etwas „aufgewärmt“ wird, ist es ja nicht gleich „überflüssig“, sondern im Gegenteil weist dies auf ein Defizit hin. Habermas‘ Diskursethik oder Poppers kritischer Rationalismus war ja bisher bloss eine Utopie oder ein regulatives und methodologisches Ideal von PhilosophInnen, WissenschaftlerInnen oder eben JournalistInnen. Pörksens Buch kann dahingehend als erneuernder Appell zu verstehen.

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