Abstand halten
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schreibt in seinem jüngsten Buch «Die grosse Gereiztheit», dass durch die umfassende Durchdringung der Welt vermittels digitaler Medientechnologien vormals getrennte Bewusstseins- und Lebenssphären miteinander verbunden werden: Es verschmelzen das Hier und das Dort, die Information und die Emotion, das Reale und das Simulierte, die Kopie und das Original. Und das entspricht einem ganz neuen Niveau der Indiskretion. Der Kulturbruch der Digitalisierung besteht laut Pörksen darinnen, dass zivilisierende Diskusfilter wegbrechen, was nicht zuletzt dafür sorgt, dass sich Menschen unerträglich nahe kommen und mit einer Transparenz der Differenz konfrontiert werden, die sie überfordert. Mit tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschiedlichkeiten also, die sie nicht aushalten. Zu viel Nähe.
Geld hilft immer
Einer dieser wegbrechenden zivilisierenden Diskursfilter ist das, was man «Manieren» nennt: Nicht zuletzt die Rituale der Höflichkeit sind beziehungsweise waren eine Stütze des öffentlichen Raums. Ein anderes bewährtes Abstandsmedium hingegen scheint nach wie vor sehr valide: Geld. «Die beste Verwendung von Geld besteht in der Distanzierung von anderen Leuten», hat die Essayistin Fran Lebowitz schon vor vielen Jahren völlig korrekt festgestellt – und dies scheint heute mehr denn je gültig zu sein. Ja, meine Damen und Herren, ich möchte die These wagen, dass in unseren Tagen immer mehr Geltungskonsum in Distanzaufwendungen besteht, was ja nicht identisch ist mit den Distinktionsaufwendungen durch die Zurschaustellung von Marken, beispielsweise.
Das gute Leben
Nein, hier geht es um physische, messbare, körperliche Distanz. Solches Distanzgebaren wird etwa repräsentiert durch die Konsumidee und das Markenkonzept von Reisen «abseits der Touristenpfade» – und hier, spätestens, trifft sich Herr Pörksen übrigens mit dem Soziologen Andreas Reckwitz, der in seinem Buch «Gesellschaft der Singularitäten» eine hoch qualifizierte «neue Mittelklasse» als die wichtigste, auch konsumtechnisch tonangebende soziale Gruppe der Spätmoderne verortet; ein urbanes Milieu, das weniger materiell als vielmehr kulturell definiert wird: Die neue Mittelklasse, schreibt Reckwitz, will sich nicht mit dem blossen Lebensstandard zufriedengeben, den die alte Mittelstandsgesellschaft prägte, sondern strebt «Lebensqualität» an. Das «gute Leben» sei zu einer Leitformel dieser Gruppe geworden, einer Formel, die mittlerweile auch die Ratgeberliteratur, die Feuilletons und Parteiprogramme fülle. Und ein derart gelingendes Leben ist verbunden mit Leitideen des Authentischen und Besonderen, was gleichfalls heisst: mit Abstand, der Bewegung jenseits der Pfade trister Durchschnittlichkeit.
Rückzug in Filterblasen
Interessant im Hinblick auf eine Soziologie der Digitalität wäre nun die Frage, ob nicht vielleicht ebendiese «neue Mittelklasse» auch zu jenen Milieus gehört, die dann paradoxerweise auf sogenannten sozialen Netzwerken jeden Abstand verlieren. Sofern man mit «Abstand» nicht den Rückzug in ovolaktovegetarische oder genderhomogene Filterblasen bezeichnet, sondern die Einhaltung manierlicher Diskursregeln.
6 Kommentare zu «Abstand halten»
Eine Antwort wäre vielleicht, dass es auch in der «neuen Mittelklasse» der Digitalität an Physischem, Messbaren und Körperlichem mangelt, von welchletzteren der Verbleib der Manieren offenbar immer mehr abhängt. Diese neue faktische Beschränktheit ist nicht ohne Weiteres gutzuheissen. Das anstregend erworbene „Authentische“ und „Besondere“ geht wieder verloren. Anders gewendet gibt es im Digitalen unter Anderem deswegen eine Art kulturelle Einebnung. Seltsamerweise fördert dies die Gereiztheit.
Zu: «Die beste Verwendung von Geld besteht in der Distanzierung von anderen Leuten» (Fran Lebowitz) ist noch anzumerken, dass die Voraussetzung der besten Geldverwendung natürlich ihrerseits die Diskretion ist, ansonsten die genannte Distanzierung nicht funktioniert.
seitdem selbst jede Reinigungskraft sich eine Kreuzfahrt in der Karibik leisten kann (wenn sie wirklich will), seitdem drückt sich der Luxus einer ganz schmalen Schicht von Leuten (weniger als 10%) eben anders aus. Das ist keine neue Bewegung oder Befindlichkeit, sondern bloss andere Mittel zum selben Zweck.
Nein, wir sind nicht moderner oder gewitzter oder verdorbener als die Menschen vor 100 oder 200 Jahren. Einzig die Technik hat sich gewandelt und deshalb auch die Mittel, wie wir uns von anderen abgrenzen.
Oder glaubt hier einer, Rockefeller (1000 andere Millionäre) wäre in den 1950ern mit der UBahn zur Arbeit gefahren? Weil das damals „alle“ taten?
Ich bewundere, Herr Rothacher, Ihre Auffassungsgabe. Als armer Tropf, der der Verdoppelung der Vernunft (Robert Pfaller) unterworfen ist, das soll bedeuten, dass ich „auf vernünftige Weise vernünftig“ sein soll, wodurch sich angeblich erst das Gemässigte und Milde entwickle (beginne, schon wieder abzuschweifen), musste zuerst ein Argumentationsschema zeichnen, bevor ich den Text begriff. Aber wir merken uns: Nur die Technik hat sich gewandelt.
Toll auf den Punkt gebracht. Lese Sie immer wieder gerne. Sortierte Gedanken in einer Welt von Logorrhoe ( vermutlich falsch geschrieben, wie peinlich, aber ich lasse das jetzt einfach so stehen)
Überlege immer noch, ob der zweite Absatz des vorangehenden Kommentars stumpfsinnig sei. Denke: eher nicht. Denn die Diskretion geht der Distanzierung voraus, was nach dem Hörensagen den uralten Zürcher Familien in deren schäbigen, keinesfalls protzigen Kleidern selbst bei filterblasenmässigen (dieser Begriff ist hier mit Sicherheit falsch) geselligen Anlässen entspricht. Vom Hörensagen, sagt der Provinzler, wo es in der Stadt sehr wohl Patrizier gab, aber auf dem Land nur Hörige des Reichsfürsten. Wo war ich? Egal. Egal, wie auf lange Sicht das Jassspiel, obwohl dieses unmittelbar grosse Gereiztheit hervorrufen kann. Dies aus eigener Erfahrung. Lange Weile reizt diesfalls negativ – meine Wenigkeit.
Ja, so ist es.In reichen Quartieren kennt man sich nicht. Dort lätet man nicht bei der Nachbarin und bittet sie um ein Ei, weil man gerade keines hat und doch für unvorgesehene Gäste eine Mayonnayse machen möchte. In armen schon, da hilft man sich auch manchmal mit etwas aus.