Kleine Unterschiede

Sprache dient zunehmend nicht mehr der Verständigung, sondern der Abgrenzung. Montage: Laura Kaufmann
«Unsere Zeit, in der man die grossen Leidenschaften missachtet und mit einem Raffinement ohnegleichen den Kultus des Unendlich-Kleinen treibt» – wenn man diese Zeitdiagnose liest, meine Damen und Herren, könnte man meinen, man lese den Kulturphilosophen Robert Pfaller, der für unsere Epoche die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der grossen Ungleichheit zu den kleinen Differenzen konstatiert hat. Oder den Soziologen Andreas Reckwitz, der sagt, dass wir uns zu einer Gesellschaft der Singularitäten entwickeln, wo jeder nur noch damit beschäftigt sei, seine mutmasslich singuläre Biografie als individuelles Meisterstück zu kuratieren.
Aber nein. Es handelt sich vielmehr um ein Statement, das der expressionistische Dichter Ferdinand Hardekopf bereits vor knapp 120 Jahren zu Papier brachte, in seinen «Berliner Briefen» für die «Eisenacher Tagespost» (Hardekopfs gesammelte «Feuilletons» sind in einer gelungenen Ausgabe im kleinen Zürcher Nimbus-Verlag verfügbar). Also auch noch Dekaden vor Sigmund Freuds berühmter Formulierung vom «Narzissmus der kleinen Differenzen» in dessen Schrift «Das Unbehagen in der Kultur».
Political Correctness als Geltungsware
Der Narzissmus der kleinen Differenzen wird selbstverständlich auch konsumtechnisch aktualisiert und ausgelebt und führt zu all jenen Groteskerien und Eitelkeiten, die man, je nach Standpunkt, entweder für subtile Sublimierungen oder für materialistische Geistlosigkeiten erklären kann. Jedenfalls geht es um Distinktion, also Abhebung, durch den richtigen Turnschuh, die richtige Augencreme (mit Platinpartikeln), die richtige Ernährung. Doch während die Pflege der Unterschiede in der Konsumkultur verfeinernd wirken kann, wirkt sie in der Debattenkultur paradoxerweise vergröbernd bis zerstörerisch.
Hier kommen wir dann doch wieder auf Robert Pfaller zurück, der schreibt: Die identitäre Fixierung auf die Differenz zerstört den öffentlichen Raum als Raum der wohlwollenden und grosszügigen Begegnung unter Gleichen. Ganz ähnlich klingt Andreas Reckwitz, wenn er feststellt, die soziale Logik des Allgemeinen habe sich zu einer Logik des Besonderen gewandelt, bei der jeder vorzüglich nur noch mit der Pflege seines Selbst befasst sei. Die Wahrnehmungsfähigkeit für das Allgemeine, das Allgemein-Menschliche, an sich selbst und auch an anderen, geht verloren.
Vor diesem Hintergrund wird ein sogenannter politisch korrekter Sprachgebrauch zur Geltungsware für bestimmte Milieus, wo Sprache schliesslich nicht mehr der Verständigung, sondern vor allem der Abgrenzung zu dienen scheint. Der Sprachphilosoph Philipp Hübl hat darauf hingewiesen, dass das Bemühen um Korrektheit in einem unendlichen Prozess immer neue Benennungen hervorbringt – wohl auch, weil das kostbare Gut des angemessenen Sprechens immer weiter verknappt werden muss, um den Distinktionsgewinn aufrechtzuerhalten. Verloren geht dabei die soziale Dimension des Sprechakts, die zugleich die Essenz von Manieren darstellt: Unbefangenheit, Humor, Höflichkeit, Selbstironie, Charme.
Dann doch lieber Platin-Augencreme.
11 Kommentare zu «Kleine Unterschiede»
Wie der 120 Jahre alte Ausspruch zeigt, ist Distinktion ein „Dauerproblem“ des Menschen, weil sie seiner Natur entspricht. Ob Turnschuhe oder Sprache ist dabei unerheblich (die Jugendsprache hat schon immer Differenzen geschaffen, ebenso die „hochgeistigen Ergüsse“ der „Eliten“). Dass die Distinktion nun auch innerhalb der sozialen Gruppen auftritt (z.B. Studentenschaft), ist der Digitalisierung zuzuschreiben: der Mensch kann nicht ohne Gleichgesinnte leben, will zu einem Umfeld gehören. Die sprachliche Distinktion ist ihm heute möglich, weil er seine angestammte Gruppe nicht mehr braucht, sondern sich neue, Länder- und Kontinenten-übergreifend schaffen kann. So findet heute jeder eine neue „Gruppe“ und damit ein Stückchen Heimat, kann sich deshalb sprachlich „distinktieren“.
Das Verb zu „istinkt“ hisst „distinguieren“. Distinktieren gibt es nicht. Ausser Sie möchten von den Stinkttieren schreiben.
„Man hat Probleme, die in der Ökonomie zu erledigen gewesen wären, in die Kultur verlagert und sie dort zu behandeln versucht.“
Robert Pfaller ist ein grossartiger Denker, der die grossen Zusammenhänge unserer Zeit erkannt hat. Noch ein Interview mit ihm hier:
https://derstandard.at/2000077974183/Philosoph-Robert-Pfaller-Moralisieren-ist-immer-eine-Verfallserscheinung
Distinktion, so, wie er sie empfindet, ist auch und vor Allem das Resultat einer wachsenden Infantilisierung des öffentlichen Raumes. Das grosse Ablenkungsmanöver scheint zu wirken- bis weit in den universitären und wissenschaftlichen Betrieb hinein…
Wo ist unbefangenes Sprechen heute noch möglich? Meine schlechtesten diesbezüglichen Erfahrungen, um meine „singuläre Biografie“ hier wieder mal „zu kuratieren“, habe ich in der katholischen Kirche und deren Organisationen gemacht. Wehe, man sagt dort ein unkorrektes Wort! Dabei würde man meinen, die Grosszügigkeit habe genau da einen besonderen Platz. Ende der 70er, Anfang der 80er war das noch anders. Erstens war es ohne Weiteres erlaubt, unkompliziert das Wort „Gott“ oder „Herrgott“ in den Mund zu nehmen; zweitens war auch (zum Teil ziemlich grober) religiöser Humor an der Tagesordnung, besonders nach der Messe an den Festen oder im Wirtshaus. Typisch katholisch eben. Damals.
Nachsatz: Im Jahre 1732 erschien von Karl Wilhelm Gärtner (1700-1760) die Dissertatio (Erörterung) iure Germanico inter impuberes et minores, tutores et curatores, non distingui, nach welcher im germanischen Recht weder zwischen Kindern (impuber, unreif) und den Jüngeren (minores) noch zwischem dem Vormund (tutor) noch dem Pfleger (curator; verwandt mit Kultur) unterschieden wird (non distingui). Im ZGB wurde per 1.1.2013 tatsächlich Mündigkeit durch Volljährigkeit ersetzt (Art. 12). Dies als hochgeistiger Erguss eines Nicht-Elitären, der auch gar keinen Distinktionsgewinn (was ist das?) anstrebt, zu Distinktion, Jugendsprache, Kuration und Infantilisierung. He, wir werden älter! Elitär kann nicht sein, wer als Jugendlicher Schweine- und Kuhställe ausgemistet sowie Holz gehackt hat.
Tingler in Höchstform. Vielen Dank. Es erträgt durchaus noch ein paar halbredundante Varianten solcher Analysen – man kann es wohl nicht oft genug wiederholen: Hört auf mit dem Diversity-Identity-Wahnsinn. Es reicht, wenn wir heute irre Präsidenten von Weltmächten haben, die mit der einen Hand twittern (reicht vollkommen) während sie den Zeigefinger anderen am Abzug haben.