Bäume umarmen
Die Warenwelt ist nicht nur glitzernd und verheissungsvoll, meine Damen und Herren, sie ist auch komplex, verwirrend und belastend. Nichts kann nervtötender und zeitaufwendiger sein als die Optimierung von Konsumentscheidungen, wie jeder weiss, der sich schon einmal für eine Waschmaschine oder Lichtschalter entscheiden musste. Und dann guckt der spätmoderne Mensch aus dem Fenster und fragt sich: «Was ist eigentlich noch einfach? Wo gehts eigentlich noch einfach und ursprünglich zu?» Die Antwort scheint ihrerseits einfach: Draussen. In der Natur.
Das geheime Leben
Oder doch nicht? Seit langer Zeit verkauft ein Förster sehr gut Bücher, dessen Werk sich mit dem «geheimen Leben der Bäume» befasst. Ein Titel, der offenbar eine Sehnsucht bedient: die nach der Beseelung der Natur. Es ist dies eine romantische Sehnsucht, die weiter geht als Kompensation des Naturverlusts für Grossstädter, weiter als die Langeweile der Besitzenden, weiter als das sinnsuchende Bekenntnis einer Zeit, in der jener zerstreuungsbedürftige, nervöse, selbstfixierte Typus des urbanen Menschen auch in der Provinz überall auf den Plan tritt.
Die Natur wird dabei selbst zur Ware, aber da ist lediglich ein Nebeneffekt, den wenige bemerken, denn er versinkt vor dem grossen Antrieb: Wenn schon die Begegnung mit Mitmenschen in der beschleunigten digitalen Konsumgesellschaft oft unbefriedigend und virtuell ausfällt, wenn daneben und darüber hinaus der Wettbewerb als Interaktionsmodus Bereiche wie Beziehungsanbahnung und Freundschaftspflege übernimmt, dann wächst und wuchert und exuberiert das Verlangen nach sinnbehafteter Begegnung mit anderen Lebensformen und Mitgeschöpfen. Also vertiefen wir uns in die Pflanzenwelt. Also lernen wir die Gewächse kennen. Vor allem als Schlüssel zum eigenen Selbstverständnis natürlich, denn jedes Phänomen in der Welt muss und soll dem spätmodernen Konsumbürger zunächst als Schlüssel zum eigenen Selbstverständnis dienen.
Der Baum kann nicht weglaufen
Auch der Florentiner Botanik-Professor Stefano Mancuso bescheinigt den Pflanzen in seinen Büchern eine Art von Intelligenz, eine Art von Gefühlen und eine Art von kommunikativen Fähigkeiten: Die Pflanzennetzwerke sind ihm ein Vorbild für ideale Strukturen menschlicher Entscheidungsfindung. Und wenn also die mitfühlende Innenwelt dieser mitentscheidenden Mitmenschen irgendwie hinter den Erwartungen zurückbleiben sollte (und wann täte sie dies nicht), kann man sich immer noch der fühlenden Innenwelt der Photosynthese betreibenden Mitgeschöpfe zuwenden. Und einen Baum umarmen.
Alles schon mal dagewesen, irgendwie. Der Baum kann vor dieser Art von Konsumation auch nicht weglaufen. Kulturell gesehen hingegen ist dieser Konsumwunsch nach gefühliger Natur wohl vor allem wieder einmal ein weiteres Zeugnis des umgreifenden Ironieverlustes in der Spätmoderne, einer asketischen Kulturentwicklung, wie der Philosoph Robert Pfaller sagen würde, von erwachsener Ironie hin zu kindlichem Ernst. Ernst wie eine Trauerweide.
10 Kommentare zu «Bäume umarmen»
wäre vermutlich nicht das schlechteste, wenn die natur als konsumgut – mi entsprechendem hohem preis selbstverständlich – behandelt würde. egal ob der „konsument“ nun ein naivling oder ernsthaft wie eine trauerweide wäre.
Askese hat den Gleichmut zum Ziel und setzt einen geistigen Überbau voraus. Ironie bedingt ebenso Gleichmut und setzt das Geistreiche voraus. Sind Askese und Ironie deswegen dasselbe oder haben sie nur gleiche Bedingungen, sind aber dennoch Verschiedenes?
Dr. Philipp Tingler, kühnes Streitross des parfümiert-wohltemperierten Kulturmarxismus, schlägt, um den Ansprüchen seines linksintellektuellen Publikums auch immer garantiert zu genügen, stets in alle Richtungen aus 😉
Bäume umarmen? Verschonen Sie mich bitte mit diesem esoterischen NewAge. Das wirkt uralt auf mich, wie ein Asbach Uralt. „Zurück zur Natur“ – à la Jean-Jacques Rousseau wäre schon interessanter. Der wohnte schön, in der Natur (Picardie); bei einer Comtesse auf Château d’Ermenonville. Wir hatten dort schon ein schönes Weekend verbracht, so in dieser ‚wilden‘ Natur (mit Blick darauf); aber mit bester Küche.
Es geht nicht immer um uns ! sondern um einen Perspektivewechsel – weg vom anthropozentrischen Denken – zu einer neuen Betrachtung. Zudem:. „Pflanzen sind nicht nur Ursprung und Anfang, sondern konstitutiv für die Welt als solche. Ohne Pflanzen gäbe es kein anderes Leben. Sie kreieren den Sauerstoff, den wir in der Luft zum Atmen brauchen, und wir essen Pflanzen (und Tiere, die Pflanzen essen), um zu überleben.“ H.U.Obrist, Tagi Magi Nr.38, 2017„Brillantes Grün“ über S. Mancuso und Emanuele Coccia Philosoph, „Wurzeln der Welt“. Zukunftsträchtig: Stefano Mancuso`s neustes Buch „Plantrevolution“ ESA Pflanzenforschung im Weltraum, sein Plantoid Projekt, Jellyfish Barge Projekt u.a! Auf TED kann man Michael Pollan auf amüsante Art zu dieser neuen Pflanzenperspektive hören. Dont miss it!