Gewalt als Zerstreuung
Konsumbewegungen können Fluchtbewegungen sein, meine Damen und Herren, und dies nicht nur im Fall der Kaufsucht. Konsumangebote entwerfen ja regelmässig mehr oder weniger explizit das Bild eines anderen Lebens, einer Daseinsmöglichkeit. Das wird klassischerweise bei sogenannten Luxusgütern gewürdigt, ist aber ebenfalls nicht selten die Grundlage dessen, was man Kulturkonsum nennt.
Ich habe unlängst an anderer Stelle angemerkt, dass ich es bedenkenswert finde, dass es neuerdings als Qualitätsmerkmal gilt, wenn Bücher wie Spielfilme oder Fernsehserien daherkommen: mit detailreicher Kulisse, plastisch und drastisch an der Oberfläche, und so ausladend vollgepackt mit äusserer Handlung.
Das Bild eines anderen Lebens
Die Frage, ob unsere Zeit eigentlich Bücher bevorzugt, die wie Filme erscheinen, lässt sich diskutieren am Beispiel des Romans «Der Boxer» des polnischen Autors Szczepan Twardoch. Es ist dies ein Buch, das sehr schön das Phänomen veranschaulicht, dass Literatur auch immer der Mode unterworfen ist, von der Inszenierung des Autors bis zur Inszenierung des Buches als angeblich drastischer Provokation im rückwärtsgewandten Kaczynski-Polen. Der Roman erfüllt sämtliche Filmkriterien, und sein eskapistischer Effekt äussert sich paradoxerweise nicht zuletzt in den seitenlangen Gewaltdarstellungen. Nennen Sie mich altmodisch, aber ich finde, dass eine tarantinohaft-detailversessene Darstellung von Gewalt immer etwas Defizitäres hat. Ich bin der Auffassung, dass derart exzessive Schilderungen von Gewalt, übrigens auch der Ambivalenzen von Gewalt, implizit ein Menschenbild zum Ausdruck bringen, das ich für metaphysisch verkürzt halte. Und damit meine ich: grenzwertig trivial.
Hier wird gleichfalls das Bild eines anderen Lebens entworfen, indem der Mensch als fremd- und vorbestimmtes Wesen erscheint, geworfen in den Kreislauf der Natur, von Werden und Vergehen. Eine wirkliche Zivilisierung findet nicht statt, egal, wie dekadent die Kulissen aussehen mögen. Wir haben es zu tun mit einer pessimistischen, mechanistischen, vulgärnaturalistischen Sicht des menschlichen Daseins, die mir unterkomplex erscheint und die Gewalt zur Illustration eines tristen Determinismus einsetzt. Was auch bedeutet: Konsumkulturtechnisch gesehen, handelt es sich um Gewalt als Zerstreuung. Und das gefällt mir nicht (falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten).
Dann besser James Baldwin
Nennen Sie mich noch einmal altmodisch, aber ich konsumiere dann doch lieber Autoren wie James Baldwin, dessen Werk soeben wieder in neuer deutscher Übersetzung erscheint und der etwas höhere Ansprüche an die menschliche Autonomie und Selbstaufklärung hat als Twardoch. Denn wenn wir aufhören, an den Menschen zu glauben, müssen wir auch keine Bücher mehr lesen. Ausser zur Zerstreuung.
Wenigstens ist die Unterkomplexität bei Twardoch nicht auch noch gut gemeint, wie etwa die Unterkomplexität bei Ai Weiwei. Gut gemeinte Unterkomplexität scheint mir das Hauptproblem in der zeitgenössischen bildenden Kunst zu sein, aber das ein andermal.
6 Kommentare zu «Gewalt als Zerstreuung»
Herr Tingler: Als einer der regelmaessig Buecher rezensiert, haben Sie sicher ein viel mehr mit der Gegenwartliteratur zun tun als ich, aber als Leser habe ich nicht das Gefuehl, dass es eine Trivialisierung stattfindet.
Es gibt sehr viel von dem was man als trivial empfinden kann (und soll). Aber es gibt in der Masse hier und da auch sehr schoene Literatur.
Aber das war ja auch immer so, nicht wahr?
„Gut gemeinte Unterkomplexität scheint mir das Hauptproblem in der zeitgenössischen bildenden Kunst zu sein, aber das ein andermal.“ Auf diesen Artikel bin ich gespannt.
Diesen Text finde ich nicht unterhaltsam, eher ernsthaft. Konsumbewegungen können nicht nur fluchtartig, sondern auch hinbewegend sein, immer mit nach Nietzsche pathetischer, leidender Distanz. Aber auch diesfalls werden unendlich viele Möglichkeiten vorgestellt. Die detailreichsten Illusionen entwickle ich vor dem Einschlafen, wenn ich mir die Durchdringung Hegels als von einem dunkelblauen Etikettenpapier potentiell ablösbaren mittigen Rhombus, der nach dessen Ablösung das Durchstossen mit einer Faust auslöst. Das ist auch eine Art (ontischer) Gewalt, aber nicht trivial. Aber weil mich dies nicht zerstreut, ist es eminent, Bücher zu lesen. Das bedingt zu Recht den Glauben an den Menschen. Hoffnungslosigkeit ist falsch. Es braucht viel Mut zum Falschen. Ich nenne keinen Namen.
also, der boxer, den fand ich GROSS
Nicht jeder Roman ist Literatur. Nicht jedes Buch ist Kultur. Ob der Roman den Status von Literatur erreicht (also echte Kunst ist), darüber entscheidet die Qualität des Werks. Und hier weist Twardochs Werk wohl grosse Mängel auf, wie Herr Tingler anschaulich darlegt.
Aber „Der Boxer“ könnte Kultur sein, weil Twardoch Bestseller-Autor ist und viel gelesen wird. Denn nur was echte Verbreitung findet, kann auch Einfluss auf die Zivilgesellschaft ausüben und deshalb zu Kultur werden. Falls also Twardoch Trendsetter ist, hat er Kultur geschaffen. Ist er bloss auf den Zug aufgesprungen, schreibt er Trivial-Literatur (weil die Qualität fehlt).
Anders ausgedrückt: Die Beatles waren in den 1960ern Kultur. Die Plagiate der Beatles machen vielleicht Kunst (hohe Qualität), aber keine Kultur.