Gewalt als Zerstreuung

Die heutige Literatur verkommt zur Haudrauf-Sparte. Montage: Laura Kaufmann

Konsumbewegungen können Fluchtbewegungen sein, meine Damen und Herren, und dies nicht nur im Fall der Kaufsucht. Konsumangebote entwerfen ja regelmässig mehr oder weniger explizit das Bild eines anderen Lebens, einer Daseinsmöglichkeit. Das wird klassischerweise bei sogenannten Luxusgütern gewürdigt, ist aber ebenfalls nicht selten die Grundlage dessen, was man Kulturkonsum nennt.

Ich habe unlängst an anderer Stelle angemerkt, dass ich es bedenkenswert finde, dass es neuerdings als Qualitätsmerkmal gilt, wenn Bücher wie Spielfilme oder Fernsehserien daherkommen: mit detailreicher Kulisse, plastisch und drastisch an der Oberfläche, und so ausladend vollgepackt mit äusserer Handlung.

Das Bild eines anderen Lebens

Die Frage, ob unsere Zeit eigentlich Bücher bevorzugt, die wie Filme erscheinen, lässt sich diskutieren am Beispiel des Romans «Der Boxer» des polnischen Autors Szczepan Twardoch. Es ist dies ein Buch, das sehr schön das Phänomen veranschaulicht, dass Literatur auch immer der Mode unterworfen ist, von der Inszenierung des Autors bis zur Inszenierung des Buches als angeblich drastischer Provokation im rückwärtsgewandten Kaczynski-Polen. Der Roman erfüllt sämtliche Filmkriterien, und sein eskapistischer Effekt äussert sich paradoxerweise nicht zuletzt in den seitenlangen Gewaltdarstellungen. Nennen Sie mich altmodisch, aber ich finde, dass eine tarantinohaft-detailversessene Darstellung von Gewalt immer etwas Defizitäres hat. Ich bin der Auffassung, dass derart exzessive Schilderungen von Gewalt, übrigens auch der Ambivalenzen von Gewalt, implizit ein Menschenbild zum Ausdruck bringen, das ich für metaphysisch verkürzt halte. Und damit meine ich: grenzwertig trivial.

Hier wird gleichfalls das Bild eines anderen Lebens entworfen, indem der Mensch als fremd- und vorbestimmtes Wesen erscheint, geworfen in den Kreislauf der Natur, von Werden und Vergehen. Eine wirkliche Zivilisierung findet nicht statt, egal, wie dekadent die Kulissen aussehen mögen. Wir haben es zu tun mit einer pessimistischen, mechanistischen, vulgärnaturalistischen Sicht des menschlichen Daseins, die mir unterkomplex erscheint und die Gewalt zur Illustration eines tristen Determinismus einsetzt. Was auch bedeutet: Konsumkulturtechnisch gesehen, handelt es sich um Gewalt als Zerstreuung. Und das gefällt mir nicht (falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten).

Dann besser James Baldwin

Nennen Sie mich noch einmal altmodisch, aber ich konsumiere dann doch lieber Autoren wie James Baldwindessen Werk soeben wieder in neuer deutscher Übersetzung erscheint und der etwas höhere Ansprüche an die menschliche Autonomie und Selbstaufklärung hat als Twardoch. Denn wenn wir aufhören, an den Menschen zu glauben, müssen wir auch keine Bücher mehr lesen. Ausser zur Zerstreuung.

Wenigstens ist die Unterkomplexität bei Twardoch nicht auch noch gut gemeint, wie etwa die Unterkomplexität bei Ai Weiwei. Gut gemeinte Unterkomplexität scheint mir das Hauptproblem in der zeitgenössischen bildenden Kunst zu sein, aber das ein andermal.

6 Kommentare zu «Gewalt als Zerstreuung»

  • Kristina sagt:

    Es gibt da diesen einen Film, ein Thriller in dem Nichts passiert. Also doch, es gibt verschiedene Verbrechen. Aber kein einziges Bild. Nicht wenige hatten die Vorstellungen verlassen. Zu brutal; der wenn man über die eigene Fantasie stolpert. Das ist der Tarantino-Paradox. So falsch. So echt.

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