Hängt Würde vom Einkommen ab?

Oder: Was kostet Moral? Eine Suche im Schatten von Karl Marx.

Die allzu schnelle moralische Verohnmächtigung einkommensschwacher Milieus hat etwas Herablassendes. Montage: Laura Kaufmann

Offenbar ist Marx wieder in Mode, meine Damen und Herren, was an seinem 200. Geburtstag liegen mag, wohl aber auch daran, dass Marx-Zitaten diese Neigung zur universalen Gültigkeit innewohnt, die eben regelmässig mit einer brachialen Vereinfachung einhergeht. Zum Beispiel konnte man zum Jahreswechsel in der «Süddeutschen Zeitung» lesen: «Das ganze pornokapitalistische Elend der Gegenwart schlummert in einem einzigen Satz von Marx», und besagter Satz wurde dann selbstverständlich auch prompt zitiert. Er lautet: «Die Bourgeoisie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst.»

Ein bisschen differenzierter sollte man es dann schon betrachten. Zufällig (oder nicht) haben sich in letzter Zeit verschiedene akademische Autoren mit der persönlichen Würde beschäftigt, zum Beispiel die Historikerin Ute Frevert. In ihrem jüngst erschienenen Buch «Die Politik der Demütigung» schreibt Frevert über öffentliche Beschämungen auch als Phänomen einer auseinanderdriftenden Gesellschaft und stellt dabei fest, dass eine «Kultur der Würde» sich «in manchen, aber eben nicht in allen Teilen der Gesellschaft zu behaupten weiss».

Das Materielle und das Immaterielle

Noch deutlicher in dieser Hinsicht wird der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seinem Buch «Wahre Meisterwerte». Er konstatiert: Es gibt nicht nur ein materielles, sondern auch ein immaterielles Wohlstandsgefälle. Es gibt ein Milieu, das es sich leisten könne, ein wertebewusstes Leben zu führen, schreibt Ullrich, ja, mehr noch, ein Milieu, so ab der Mittelklasse aufwärts, bei dem Wertebewusstsein und moralische Sensibilität als Distinktionskapital fungieren, das heisst: Jeder Konsumakt, jede Geschmacksäusserung wird zur Manifestation einer moralischen Gesinnung, das Materielle verbindet sich unauflöslich mit dem Immateriellen.

Und diesem Milieu mit moralischer Meinungsführerschaft stehe eine Art moralisches Prekariat gegenüber (das den konsensualen Blossstellungen in Castingshows zustimmt und den Populisten hinterherrennt). In diese Richtung denkt auch der Philosoph Robert Pfaller, wenn er in seinem Buch «Erwachsenensprache» unterscheidet zwischen einem «Mittelstand mit hehren moralischen Gefühlen für ferne Benachteiligte und hohem, daraus entspringenden Distinktionsgewinn» und «einer Unterschicht, die sich solche Gefühle und den dazugehörigen verklemmten akademischen Jargon immer weniger leisten kann».

Und nun möchte ich gerne mal fragen: Wieso eigentlich nicht? Sind Würde und Moral tatsächlich so kostspielig? Gehören dazu nicht vor allem innere Konsequenz und die stete Überwindung von Engstirnigkeit und Phlegma? Was ist das eigentlich für ein Menschenbild, das in Anlehnung an Brecht die Moral immer erst nach dem Fressen verortet, also, passend zum Marx-Revival, Ethik direkt von der Ökonomie ableitet? Ich finde: Die allzu schnelle moralische Verohnmächtigung der einkommensschwächeren Milieus eben aufgrund dieser Einkommensschwäche hat auch etwas Bevormundendes, Herablassendes. Moralisch ist das nicht.

21 Kommentare zu «Hängt Würde vom Einkommen ab?»

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.