Die Wahrheit über Vergewaltigungen

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Seit Wochen hält der Fall der Frau, die in Indien in einem Bus vergewaltigt wurde und später an ihren schweren Verletzungen starb, die Welt in Atem. Und so brutal und schockierend diese Tat ist, erstaunt es dennoch, dass das Thema nach wie vor für Schlagzeilen sorgt. Schliesslich gehören Erniedrigungen, Belästigungen und Vergewaltigungen von Frauen in grossen Teilen der Welt zur Tagesordnung, sind in vielen stark patriarchal geprägten Kulturen auch Teil des Systems und werden strukturell dazu eingesetzt, Frauen zu kontrollieren und sie von politischer Macht fernzuhalten. Warum also erntet nun gerade dieser Fall so grosse Aufmerksamkeit?

Einerseits natürlich, weil die Tat unfassbar brutal ist und die Frau danach starb und zwar auch deshalb, weil die Männer auf dem Polizeiposten sich weigerten, schnell zu handeln. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass sich hier das Gesicht der sogenannten Rape-Culture, der Vergewaltigungskultur, in seiner letzten Konsequenz zeigt. Der von Feministinnen der zweiten Welle geprägte und von den Slutwalks der vergangenen Jahre aus der Mottenkiste geholte Begriff bezeichnet ein Glaubenssystem, das männliche, sexuelle Aggression fördert und sexuelle Gewalt (vor allem) gegen Frauen unterstützt und das Vergewaltigung als Waffe und als Instrument der Dominanz und Unterdrückung einsetzt. Es ist eine Kultur, welche das tägliche Leben jeder Frau beeinflusst, weil sie immer damit rechnen muss, sexuell angegriffen zu werden. Die schockierende Tat in Indien machte deutlich, dass Rape-Culture sich aber genau so gegen Männer richten kann, zumal der Freund jener Frau, der sie zu schützen versuchte, ebenfalls zusammengeschlagen wurde. Von der unter Rape-Culture subsumierten sexuellen Gewalt und all den Strategien, sie zu verharmlosen, sind auch sehr viele Kinder betroffen. Und sie ist global verbreitet.

Im Vergleich zu Indien oder den islamistisch geprägten Ländern sind wir in hiesigen Breitegraden mit den Emanzipationsbestrebungen weit gekommen. Die Frauen haben sehr viel mehr Handlungsspielraum gewonnen, als sie noch vor vierzig Jahren hatten und ihr Einfluss auf die Gesellschaft ist unübersehbar. Wir sind inzwischen schon so weit, dass die Diskussion in den vergangenen Jahren und Monaten sich immer mehr darauf fokussiert hat, ob die Frauen nicht zu weit gegangen sind, ob nicht die Männer inzwischen das benachteiligte Geschlecht sind, ihre Männlichkeit nicht mehr ausleben dürfen und systematisch diskriminiert werden. Und schuld daran sollen die Frauen sein.

Das ist der falsche Ansatz. Denn es geht hier eben nicht um Männer gegen Frauen oder Frauen gegen Männer, sondern um die systematisierte Gewalt der Überlegenen gegen die Schwachen. Es ist eine Tatsache, dass sexuelle Gewalt nicht nur ein Thema in «unzivilisierten» Ländern, sondern auch hierzulande stark verbreitet ist. Nach wie vor herrscht die Tendenz vor, die Opfer dafür verantwortlich zu machen, was ihnen angetan wurde, weil sie sich falsch gekleidet oder falsch verhalten hätten, weil sie eben «Schlampen» seien. Wenn, wie jüngst in der «Weltwoche», Artikel erscheinen, die das Sexualstrafrecht darstellen als «Wunderwaffe für die Frau», als Kampfmassnahme während einer Trennung, dann ist das ein Schlag ins Gesicht all jener Frauen, die sexuelle Gewalt am eigenen Leib erfahren mussten.

Nein, es geht nicht um «Männer gegen Frauen». Rape-Culture ist keine Erfindung der Feministinnen und die meisten Männer finden solche Übergriffe genau so entsetzlich wie Frauen. Es geht auch nicht um Aggression im Allgemeinen, sondern es geht um die Minderheit von Männern, die andere vergewaltigen und sexuell demütigen. Im Übrigen ist es auch nur eine Minderheit von Frauen, die mit falschen Vergewaltigungsvorwürfen Männern schaden wollen. Als Kultur aber muss es uns darum gehen, dass Männer wie Frauen sich darauf einigen, dass sie Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt nicht akzeptieren. Dies sollte auch der Kompass sein bei der Frage, wie viel Toleranz man Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund entgegenbringt. Toleranz ist gut, aber wir sollten den Grundsatz hochhalten, dass wir Rape-Culture und die systematische Unterdrückung der Frau niemals tolerieren werden. Weder bei uns noch in anderen Kulturen.

Im Bild oben: Eine Frau trauert in Delhi mit einem symbolischen Knebel um die vergewaltigte Studentin, 29. Dezember 2012. (Keystone)

34 Kommentare zu «Die Wahrheit über Vergewaltigungen»

  • Sportpapi sagt:

    „Als Kultur aber muss es uns darum gehen, dass Männer wie Frauen sich darauf einigen, dass sie Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt nicht akzeptieren.“ Wer sollte da widersprechen. Andere Punkte auf der Agenda aber einfach als „falschen Ansatz“ zu bezeichnen, Umstrittenes aber als „Tatsache“ oder „Tendenz“ zu bezeichnen, ist auch nicht gerade ein guter Diskussionsansatz.

  • Marcel Mertz sagt:

    Danke für den Beitrag, dem ich nur zustimmen kann.

    Aber ein Hinweis auf ein kleines sprachliches/logisches Detail: Die Aussagen „Rape-Culture ist keine Erfindung der Feministinnen […]“ und „Der von Feministinnen der zweiten Welle geprägte […] Begriff [Rape-Culture, Anm. MM] […]“ scheinen im ersten Moment inkonsistent zu sein. Es müsste (daher) deutlicher gemacht werden, dass es in der ersten zitierten Aussage nicht um den Begriff, sondern um das, was mit dem Begriff bezeichnet wird, geht (= der Begriff ist Erfindung der Feministinnen, aber das, was mit ihm bezeichnet wird, nicht).

  • Marcel Mertz sagt:

    Um erkenntnistheoretisch an meinen vorigen Kommentar anzuschliessen: An welchen empirischen und/oder hermeneutischen Beobachtungen/Deutungen wird das Existieren dessen, was mit „Rape-Culture“ bezeichnet wird, konkret festgemacht? Wie erheblich sind die theoretischen Voraussetzungen bzw. wie stark „theoriegeladen“ sind die Beobachtungen? Ist es möglich, so etwas wie einen „Grad“ an Rape-Culture in Gesellschaften zu bestimmen, Gesellschaften dahingehend zu „messen“ (gerade dann, wenn man Rape-Culture als idealtypischen Begriff und nicht als Konstrukt mit Operationalisierungen versteht)?

  • Anh Toan sagt:

    „….dass wir Rape-Culture und die systematische Unterdrückung der Frau niemals tolerieren werden. Weder bei uns noch in anderen Kulturen.“

    Mich stört der letzte Satz: Woher nehmen Sie die Legitimation, anderen Kulturen Ihre Werte aufzuzwingen? Wir müssen die Werte anderer Kulturen (die Familie ist wichtiger als das Individuum) tolerieren, wenn auch nicht mehr, denn letztlich wäre das nicht tolerieren eine Form von „systematisierter Gewalt der Überlegenen gegen die Schwachen“.

    • Sophia Walter sagt:

      „Die Familie ist wichtiger als das Individuum“ das mag ja als Wertvorstellung in einer Kultur bestand haben und soll von mir aus auch unangetastet bleiben. Aber ja wohl nicht bedeuten, dass Frauen in der Familie geschlagen und vergewaltigt werden dürfen. Das rein gar nichts mehr mit dem Wertebegriff als solches zu tun. Und überhaupt, was für ein Schwachsinn, das “ nicht tolerieren“ solcher „Praktiken“ mit systematischer Gewalt gegen Schwache gleichzusetzen!

    • Marco Casutt sagt:

      @ Anh Toan: Rechte von Individuen können nicht „aufgezwungen“ werden, da sie ohnehin existieren. Die Frage ist bloss, ob sie geachtet oder verletzt werden. Diese Verletzungen müssen nicht nur nicht „toleriert“, sondern in jedem Fall kritisiert werden.

  • Jeanne sagt:

    Es ist frustrierend zu sehen, wie eine Minderheit sexuell agressiver Männer nur schon mit ihrem respektlosen Verhalten gegenüber Frauen deren Freiheit massiv einschränkt. Welche Frau hierzulande wurde nicht schon Opfer von blöder Anmache im öffentlichen Raum? Natürlich ist das noch keine Vergewaltigung, und doch ist es unangenehm zu wissen, dass man jederzeit auf der Hut sein muss. In Indien gibt es schon lange Zugsabteile nur für Frauen. Inderinnen wissen sehr wohl, das sie in der Öffentlichkeit in Gefahr sind. Ich musste mich dort während meiner Reisen klar an die Regeln halten: kein Blickkontakt, keine nackte Haut, wenn möglich männliche Begleitung. Ansonsten wurde man extrem schnell sehr penetrant belästigt. Das war wirklich sehr schwierig auszuhalten.

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