Lob der Verausgabung

Über Kultur und Verschwendung.

Gekauftes Glück: Konsum ist eine Grundlage von Entwicklung und Selbstverwirklichung.

Mein letzter Flug mit Air Berlin war angenehm, meine Damen und Herren. Ich sass ganz vorn, ganz allein, trank einen Kaffee und unterhielt mich mit der Kabinenchefin. Über den Gang sass ein Herr, der irgendwann einwarf, er habe mit dem Untergang des Airberlin-Vielfliegerprogramms Topbonus 800’000 Meilen verloren. (Inzwischen ist Topbonus quasi als Fassade wiederbelebt worden, was etwas Klägliches hat wie der gesamte Untergang dieser einst wichtigen und potenzialreichen Fluggesellschaft.)

Besagte 800’000 Meilen entsprachen etwa 40 innereuropäischen Freiflügen. Wie konnte sich so eine Masse ansammeln? Ich weiss, dass viele Geschäftsleute gar keine Zeit finden, ihre Meilen für Flüge auszugeben (weshalb man auch andere Sachen mit Meilen kaufen kann), aber in den akuten Tagen der Air-Berlin-Krise gaben über die Medien zahlreiche befragte Passagiere gigantische Meilenguthaben an, die nun also verfallen würden. Weil sie ihre Meilen nie ausgegeben haben. So ungefähr wie Leute, die ihre Aktien nie verkaufen. Die soll es ja ebenfalls geben.

Die Geschichte von der Ameise und der Grille

Hinter solcherlei Phänomenen steht offenbar eine etwas irregeleitete Tugend des Sammelns, Sparens und Aufbewahrens, eine tendenziell leicht puritanische Anwendung von Materialismus und Risikoscheu, wie sie als Ideal unter Konsumenten offenbar auch im globalisierten Digitalkapitalismus verbreitet ist, weil sie zu den hartnäckigen kulturellen Überlieferungen gehört. Überliefert wird die Botschaft, dass emsige Häufung und Hortung sich auszahle, während leichtlebige Verausgabung Probleme schaffe, zum Beispiel in der bekannten Geschichte von Ameise und Grille (oder Grashüpfer oder Zikade), zurückgehend auf den altgriechischen Fabeldichter Äsop.

Sie kennen die Story: Eine Zikade amüsiert sich den ganzen Sommer über auf dem Feld, singt und tanzt, während die fleissige Ameise für den Winter Getreide sammelt. Als der Winter kommt, muss die hungrige Zikade betteln gehen und kriegt von der altklugen Ameise Folgendes zu hören: «Hast du im Sommer singen und pfeifen können, so kannst du jetzt im Winter tanzen und Hunger leiden, denn das Faulenzen bringt kein Brot ins Haus.»

Konsum als Glücksprinzip

Was leider in unserer kulturellen Überlieferung weniger prominent vorkommt, ist eine Narration, die würdigt, dass Konsum und Verausgabung als Prinzip nicht nur in Kunst und Natur, sondern übrigens auch in der Ökonomie eine Grundlage von Schöpfung und Entwicklung darstellt. Sowie von Glück, Selbstbestimmung und Ich-Verwirklichung.

Was leider in der Überlieferung fehlt, ist also folgende Variante der Geschichte: Eine Zikade amüsiert sich den ganzen Sommer über auf dem Feld, singt und tanzt, während die fleissige Ameise für den Winter Getreide sammelt. Als der Winter kommt, muss die hungrige Zikade betteln gehen, und als sie die Ameise um Almosen angeht, will diese gerade zu einem altklugen Sermon ausholen, als sie von einem herabfallenden Tannenzapfen getroffen wird. Bevor die Ameise stirbt, haucht sie seufzend: «Ach, hätte ich doch auch nur ein wenig getanzt.»

12 Kommentare zu «Lob der Verausgabung»

  • Rolf Rothacher sagt:

    Zuerst einmal bezweifle ich, dass sich jemand, der durch einen Unfall stirbt, sich besser gefühlt hätte, wenn er sich zuvor „mehr gegönnt“ hätte (Stichwort: noch ein Dessert mehr, denn man könnte doch schon morgen unters Tram geraten).
    Selbstbestimmung und Ich-Verwirklichung lesen sich zwar schön und der Egoismus hat in den letzten 30 Jahren ja auch um (gefühlte) 1000% zugenommen. Doch all das funktioniert nur in einer gut organisierten, wohltätigen Zivilgesellschaft. Dass diese überstrapaziert wird, fühlen und sehen wir schon seit über zehn Jahren. Die Politik hat darauf noch nicht reagiert. Also gut möglich, dass dereinst die Ameise im Winter gar nicht mehr vor die Tür tritt und die Grille ohne Beistand elendig zu Grunde geht.
    „Der Krug geht zum Brunnen …“

    • Meinrad sagt:

      Genau: Es war ein Unfall. Oder Zufall. Kann ein Zufall bestimmen, was in Ordnung ist oder nicht? Der Tannenzapfen hätte auch den Heugümper treffen können. Skeptiker wie der Philosoph Rorty würden sagen, dass daraus keine Wahrheit abgeleitet werden könne. Der Soziologe Luhmann würde versuchen, diesen Zufall doch noch in ein System zu zwängen. Ich neige Rorty zu. Aber ganz wohl ist mir nicht dabei. Schliesslich wird sich der Heugümper das Getreide aneignen, viel Spass haben und am Heiligabend als übertragener Edouard auf einen Reda treffen, will heissen, dass auch Spass mit Risiko verbunden ist. Sagt die unverbesserliche Spassbremse.

  • René van Saramacca sagt:

    Dazu passen und weiterführen könnte da: George Bataille, «Die Aufhebung der Ökonomie»; einer eigentlichen Theorie der Verschwendung als Grundlage. Flugmeilen wurden in der Zeit der Erstausgabe wohl noch nicht gesammelt – Bataille hätte aber sicher seine Freude an diesem Beispiel gehabt und an der Grille sowieso.

  • Anh Toàn sagt:

    Früher musste man im Leben leiden, entsagen, sparen, um ins Paradies zu kommen. Heute muss man im Leben leiden, ohne Schnaps und ohne Rauch und ohne Fleisch und ohne Zucker und viel Bewegung, um mit allen eigenen Zähnen, trainiertem Körper endlich im Altersheim dann voll auf die Pauke hauen zu können.

  • Karl Huckas sagt:

    Dieser Kommentar entspricht natürlich dem heutigen Zeitgeist. Der Zweck des Sparens und Investierens ist jedoch, sich eigenverantwortlich eine gewisse Unabhängigkeit zu erarbeiten. Wenn der Lebensstandard gesichert ist, kann man umso mehr leben, singen und tanzen. Wer sein Leben wirklich verbessern will, löst sich von der Vorstellung, dass sich Sparsamkeit und Spass ausschliessen.

    • Henry sagt:

      Die Geschichte geht heute anders aus. Die Benachteiligung der Zikade durch die Ameise per se, erzwingt den gesellschaftlichen Konsens, das Erarbeitete der Amseise umzuverteilen. Möglichst so, daß die Zikade im Winter noch mehr hat aus die Ameise, schließlich benötigt sie ja auch mehr. Und auch wenn’s dem letzten sozialistischen Träumer nicht klar ist ( nein nein, beim 137. Versuch gelingt es diesmal sicher), irgendwann sammelt die Ameise auch nicht mehr und durchschaut das perfide Spiel.

  • Roman Günter sagt:

    Der ökonomische Zweck ist nicht erfüllt, wenn schlussendlich alle tot sind (Keynes meinte anderes), daher wird in der ökonomische Version die Zikade die sich im langen Winter langweilenden Ameisen bestens mit gut geübtem Sang und Tanz unterhalten und damit besser leben als jede Ameise, weil sie die Möglichkeiten der Wertschöpfung begriffen hat.

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