Facetime überall?
«Economy is the art of making the most of life. The love of economy is the root of all virtue.» (Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus seinem Leben zu machen. Die Liebe zur Ökonomie ist die Wurzel aller Tugend.) Dieses Zitat, meine Damen und Herren, verdanken wir dem bekannten irischen Dramatiker George Bernard Shaw, übrigens einem Mitbegründer der London School of Economics. Man muss nun nicht einmal ein besonders tiefes philosophisches Wasser sein, um zu realisieren, dass «the love of economy» das eigentliche Gegenteil jener überkonsumtiven Einstellung repräsentiert, die unsere Tage kennzeichnet: Everything now, das scheint das Motto der Gegenwart zu sein.
Umgangsformen wandeln sich
Besagte Einstellung äussert sich auch im zwischenmenschlichen Bereich: Die Ökonomie wirkt stets auch auf die Umgangsform. Zum Beispiel verzeichnen wir eine drastische Zunahme von Facetime-Konversationen im öffentlichen Raum: Man will die Leute, mit denen man telefoniert, offenbar nicht nur hören, sondern sie auch sehen. Everything now. Dabei war doch gerade der Umstand, dass man sich eben nicht sieht, stets einer der grössten Vorteile des guten alten Telefons, wenn Sie mich fragen.
Mikro-Aggressivität
Eventuell gibt es keine deutlichere Versinnbildlichung des zeitgenössischen Manierenverfalls als dieses Phänomen: Facetime While Walking (FWW). Also: Jemand videotelefoniert mit seinem Smartphone, während er (oder sie) sich gleichzeitig durch den öffentlichen Raum bewegt. Ein Verhalten, das ich in seiner Selbstbezüglichkeit und Abschottung gern als mikro-aggressiv bezeichnen möchte. Schlimmer als Kauen mit offenem Mund. Und zwar nicht nur, weil die störenden Emissionen und Immissionen für die Umwelt bei Videotelefonie eben noch höher sind als bei klassischen Telefongesprächen. Sondern vor allem wegen der Attitüde der Abgewandtheit, die sich in jenem Verhalten ausdrückt. Abgewandtheit von der Welt ist schliesslich das, was den Grundstein für schlechte Manieren legt.
13 Kommentare zu «Facetime überall?»
Man kann dieses dümmliche Endlos-Kommunizieren auf einen knappen Nenner bringen: ich quassle, also bin ich (nicht allein).
Und trotzdem hat die neue Technologie ihre Daseinsberechtigung! Letzthin am Bahnhof eine stumme Person gesehen, welche dank Facetime ein Telefonat in Zeichensprache führen konnte. Ein wunderbares Beispiel wie Technologie Grenzen und abbauen kann.
Bezieht sich das Zitat von GBS zum Beispiel auch auf das Gebaren der Troika? Gäbe es nicht auch noch „The General Theory of Second Best“ (Lipsey und Lancaster, 1956)? So, wie auch Sokrates die zweitbeste Fahrt wählte, als er nicht mehr weiter kam (Platon, Phaidon, 99c)? Wäre im Allgemeinen in der heutigen Zeit nicht eine „überkonsumtive Einstellung“ aus ökonomischen Gründen geradezu angesagt, falls sich die Konsumenten der Welt zuwenden? Nun gut, das wäre dann wieder „the [true] love of economy“. Der Kreis würde sich schliessen, wenn das haushaltende Subjekt stets an mindestens eine Alternative dächte.