Sind Sie anstrengend?

Prüfen Sie Ihre Wirkung.
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Wer sich für moralisch überlegen hält, kann auf sein Gegenüber anstrengend wirken: U2-Sänger und Weltverbesserer Bono. Foto: Michel Euler (Keystone)

Ob ein Mensch anstrengend ist oder nicht, meine Damen und Herren, hängt nur sehr bedingt zusammen mit Eigenschaften wie Intelligenz, sozialem Status oder äusserlicher Attraktivität. Auch hübsche Menschen können anstrengend sein. Leider. Leider. Leider. – In unserer individualistischen Erlebnisgesellschaft wird allerdings Langweiligkeit oft mit äusserlicher Konformität oder mit Müssiggang verwechselt, weshalb viele Menschen glauben, bereits dadurch interessant zu werden, dass sie sich tätowieren lassen (was dann zur neuen Konformität wird) oder Nordic Walking betreiben. Wer jemals versucht hat, sich mit einem Nordic Walker zu unterhalten, weiss, dass es damit nicht getan ist. Auf seine Mitmenschen kurzweilig zu wirken, auch wenn man wenig natürliches Charisma hat, ist vielmehr eine Lebensaufgabe, die zuallererst verlangt, dass man einen gnadenlos nüchternen Blick für die eigene Wirkung schult. Ebendies tun wir jetzt. Die andauernde Sommersaison mit ihren zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen bietet den richtigen Rahmen für so einen Test. Hier kommen für Sie ein paar Indikatoren, die darauf hinweisen, dass Sie eventuell noch ein wenig an Ihrem Charisma feilen müssen:

  1. Ihre Gesprächspartner auf Partys suchen überdurchschnittlich häufig die Toilette auf, nehmen Anrufe entgegen (obschon ihr Telefon keine sichtbare Regung zeigte) oder seufzen, ohne dies zu bemerken.

  2. Sie sprechen länger als 10 Sekunden über Wein.

  3. Sie sprechen länger als 10 Sekunden über Ihren letzten Traum.

  4. Die üblichen Reaktionen auf die von Ihnen zum Besten gegebenen Anekdoten sind: glasiger Blick, erratisches Zucken, verlegenes Husten, mechanisches Nicken, unterdrücktes Gähnen, gesteigerter Genussmittelkonsum. Lesen Sie Ihr Publikum! Sollten Sie feststellen, dass Ihre Mitmenschen in Ihrer Anwesenheit eines oder mehrere dieser Symptome zeigen, wird es höchste Zeit, Ihre Story über Ihre Ecstasy-Eskapaden in den 1990er-Jahren sofort abzubrechen.

  5. Ihre Gesprächspartner auf Partys versuchen andauernd, andere Menschen mit in die Unterhaltung zu ziehen.

13 Kommentare zu «Sind Sie anstrengend?»

  • Karl-Heinz sagt:

    Charisma verringert sich mit der inflationären Verwendung der Wort „Ich, mich, mir, meiner, unser“. Charisma bedingt einen Austausch auf Augenhöhe.

    • Martin sagt:

      @Karl-Heinz: Oh, dann habe ich wohl absolut null Charisma! Ich benutze diese Worte sehr häufig, wenn ich etwas erzähle. Ich frage mich immer, wie ich es anders ausdrücken könnte? Haben Sie ein paar Tipps?

  • Jacques sagt:

    „Ihre Gesprächspartner auf Partys versuchen andauernd, andere Menschen mit in die Unterhaltung zu ziehen“; dabei unterstütze ich sie immer. Das ist es mir schon wert. Monologe sind langweilig. Zu 2): 10 Sek. reichen ja kaum, den Namen des edlen Gewächses oenologisch korrekt auszusprechen. Fixin oder Fissin, Cher Dr. Tingler? Fixin ist etwas urwüchsiger.
    p.s.: In meiner Jugend war ich ziemlich schüchtern. Und fühlte mich manchmal eingeengt und blockiert. Bitte um Verständnis. Gracias Dottore …

  • Flo, die echte! sagt:

    Sind Sie anstrengend? Ja, ich bin anstrengend, sogar sehr! Und ich müsste feilen, sehr viel feilen!
    All die 5 Punkte müsste ich, wenn ich mich auf Party’s tummeln würde, mit Ja beantworten. Ich bin eher an gemütlichen Zusammensein mit FreundInnen interessiert.
    Gott sei Dank muss ich das nicht und wenn ich mit FreundInnen und Bekannten zusammen bin, gehen sie nicht mehr als unbedingt notwendig zur Toilette.
    Ob das ein zeichen für mein charisma ist, weiss ich nicht . Wenn Gäste meine Einladungen immer wieder annehmen dann genügt mir das!

  • Marcel sagt:

    Charisma zu haben heisst also angepasst zu sein? Wohl kaum, weil, und das ist der Punkt, charismatische Persönlichkeiten hinterlassen „Spuren“ und exponieren sich, auch wenn es unbequem ist. Das mag für das Gegenüber anstrengend sein, und in ihrer Wahrnehmung auch überheblich wirken. Dies ist jedoch ein rein subjektive Wahrnehmung, und die hat mit der Realität wenig zu tun. Menschen die in den letzten hundert Jahren wirklich Entscheidendes bewegt haben, waren alle auf ihre Weise unbequem, sie sind aus voller Überzeugung für etwas eingestanden. Einfache Kost die gut verdaulich ist, hat die Menschheit noch nie weiter gebracht, und wird es auch in Zukunft nicht tun. Ich gebe sehr gerne zu dass ich anstrengend bin, und wissen Sie was? Ich bin es gerne.

    • Martin sagt:

      @Marcel: Das hat was. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es anstrengende Leute gibt, die uneinsichtig sind. Von dieser Sorte habe ich einige getroffen. Sie können unglaublichen Schaden anrichten. Deswegen ist abzuwiegen, ob unangenehme Menschen klug oder einfach nur doof sind. „Denke wie die wenigsten, rede wie die meisten.“ Arthur Schopenhauer.

  • Anh Toàn sagt:

    Bei gesellschaftlichen Anlässen, insbesondere aber nicht nur in der Schweiz, geht es darum, möglichst langweilig zu sein, ja nicht auffallen, ja keinen schlechten Eindruck machen. Da ist man nett mit allen und redet übers Wetter. Die am meisten gehörte Fragen sind „Auch hier?“ oder „Was machst denn Du hier?“. Diese sind rhetorisch gemeint, eine ehrliche Antwort wie „mich langweilen“ oder „leider habe ich sonst kein Leben, darum gehe ich zu gesellschaftlichen Anlässen“ will ja keiner hören. (Falls mich irgendwann das Bedürfnis nach gesellschaftlichen Anlässen überkommt, werde ich, seit Harold and Maude zwar auch nicht mehr originell, Beerdigungen besuchen, da fragt immerhin keiner, was man da macht, nicht mal, wenn man keinen da kennt)

    • Peter sagt:

      Es gibt wohl nichts anstrengenderes als gesellschaftliche Anlässe. Die meisten sind dort weil sie müssen, sei es aus beruflicher Pflicht oder aus gesellschaftlicher Pflicht. In den meisten Fällen ist man allein oder vielleicht mit dem Partner an so einem Schlauch und man merkt allen an, dass es sie anödet. Also weshalb werden solche Anlässe überhaupt abgehalten, um Leute zu plagen?

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