Der angemessene Abstand
Grossbritannien will das konventionelle Auto verbieten, meine Damen und Herren. Im Jahre 2040 ist Schluss. Auch Frankreich und Indien haben solche Verbotspläne. Und wir, die Autofahrer? Wir haben uns arrangiert mit der Idee von selbstfahrenden Autos und all den Implikationen der Digitalität und des autonomen Fahrens. Wir realisieren, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Zeit stehen; mehr noch: Wir fahren ja längst teilautonom, wenn wir uns ins Auto setzen. Bereits heute steuert eine komplexe Algorithmik über diverse Assistenzsysteme das spätmoderne Automobil. In Zukunft soll das nur noch perfekter werden: Die Systeme überwachen dann selbst ihre Funktionsgrenzen, eine begrenzte Nebentätigkeit des Fahrers wird denkbar. Man kann Zeitung lesen oder Filme sehen oder Power-Point-Folien durchschauen, während das Auto von allein durch den Stau manövriert. Klingt super. Oder haben wir was zu verlieren? Egal. Das ist jetzt so. Das kommt. Das Thema scheint irgendwie erledigt, noch bevor die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge sich überhaupt auf den Strassen zeigen.
Nicht so schnell!
Das Thema ist erledigt? Moment mal. Nicht so hastig. Das autonome Auto ist immerhin ein Quantensprung, Teil einer neuen Dingwelt, ein Aspekt dessen, was man «digitale Lebensführung» nennen könnte. Was aber heisst das konkret? Aus philosophischer Sicht gefragt: Wie und inwiefern inspiriert diese digitale Lebensführung, also die zunehmende Dominanz des elektronischen Informationsaustausches, ein neues Selbstbild des Individuums – und auch eine Änderung in den Valenzen seiner Beziehungen zur Welt? Das gute alte Auto formt und beeinflusst nämlich unsere Beziehung zur Welt auf mannigfache Weise: Es definiert Erreichbarkeiten und Selbstdarstellungen. Oder, noch konkreter: Auch und gerade wenn das Auto autonom fährt, stellt sich die Frage, wie dieser technische Fortschritt in ein anderes, eher archaisches Phänomen beeinflusst, nämlich: das Auto als zweite Haut.
Das Auto als Prothese des Selbst
Denn so verhält es sich mit dem Auto, dass wir den Wagen als Extension des eigenen Körpers begreifen, mit allen Implikationen, zum Beispiel: Intimraumgrenzen und Distanzbedürfnisse. Also Abstandsfragen. Nicht nur auf der Autobahn. Reaktion auf Berührungen. Neulich erzählte mir ein Taxifahrer, wie empfindlich er darauf reagiere, wenn ihm Fahrradfahrer (die man sowieso nicht sähe) auf die Karosserie klopften, um ihren Unwillen mit seiner Fahrweise (oder der Welt im allgemeinen) kundzutun. Sie kennen das vielleicht. Wenn Unbefugte das eigene Auto anfassen, ist das kein gutes Gefühl. Eine Grenzverletzung. So ungefähr das gleiche Gefühl, das einen beschleicht, wenn sich eine Taube auf der Motorhaube entleert.
Die wichtige Frage des angemessenen Abstands wird demnächst durch Algorithmen gelöst, und bei der bis anhin regelmässig starken Identifikation des Fahrers mit seinem Fahrzeug dürfte das mutmasslich eine fundamentale Entfremdung zwischen Auto und Fahrer zur Folge haben, eine Kulturverschiebung ungeahnten und bisher wenig besprochenen Ausmasses, einen Verkehrungsprozess, der das Auto als Kulturwerkzeug und Prothese des Selbst betrifft. Denn das Auto als zweite Haut ist ja auch ein Mittel von Schutz und Repräsentation, es gilt für den Wagen analog jene Feststellung, die Hegel mit Bezug auf die Garderobe zugeschrieben wird: «Der Mantel ist ein Haus.»
10 Kommentare zu «Der angemessene Abstand»
Diese ganze Utopie von selbstfahrenden Autos. Natürlich ist das technisch machbar. Aber wer will denn den letzten Bereich aufgeben, in dem er noch selbst entscheiden darf? All die armen Würsten, die sich ein grosshubraumiges Auto leasen, um damit zu zeigen, dass sie «jemand» sind. Gerade die deutschen Autohersteller existieren ja zu einem grossen Teil nur deshalb noch, weil der Ostblock zusammengebrochen ist und es bei diesen Leuten zum guten Ton gehört, einen BMW oder Mercedes zu fahren. Man stelle sich diese Klientel eingesperrt in einem selbstfahrenden Kabinchen vor. Und dann zieht ein anderes Kabinchen ungestraft an ihnen vorbei, weil irgend ein Algorithmus das so will …
Von was reden Sie? Für den Normalverdiener ist ein Dacia Sandero in etwa erschwinglich (vernünftig kalkuliert). Den Unterhalt von so einem Auto, wie Sie das beschreiben, kann keiner bezahlen, weil die Komponenten noch zu störanfällig sind. Ein Jedermann-Auto muss für 20 Jahre und mindestens 300’000 km gut sein, und Service alle 50’000 km, ausgeführt von einer Universal-Garage. Reparatur und Ersatzteilversorgung muss in ganz Europa jederzeit möglich sein.
Das Auto verschwindet ja nicht, nur weil Politiker es (vielleicht) elektrifizieren oder es von selber steuert. Denn als Status-Symbol und Mittel zur Abgrenzung bzw. zum Abstand-Halten hat es mit der Digitalisierung keineswegs ausgedient. Weiterhin werden Nobel-Karossen mit einem „Chauffeur“ bestückt, zum Türen öffnen und Auto bewachen. Und Abstand gewinnt man mit von aussen undurchsichtigen Scheiben. Wer seine (oft geleasten) PS weiterhin lautstark zeigen muss, wird auf Wasserstoff setzen.
Bereits heute verzichten viele Städter auf ein eigenes Auto, haben sich längst anderen Statussymbolen und Abstand-Haltern zugewandt. Dieser Trend wird sich mit der Digitalisierung noch verstärken. Doch spielt es wirklich eine Rolle, mit was sich der Mensch (seit der Steinzeit) schmückt?
Wird noch Jahre Jahre dauern bis zur Reife und Perfektion
Alles völlig irrelevant. Denn mit dem selbstfahrenden Auto wird es völlig unnötig, ein solches zu besitzen: mit der smartphone-app wird einfach das gerade benötigte fahrzeug (transporter für ikea zum beispiel) bestellt und dieses fährt autonom direkt vor die haustüre… nach erledigter fahrt braucht man nur auszusteigen, das auto sucht dann selbständig den passenden parkplatz bzw fährt zurück zum anbieter. Mobility der zukunft. Und wenn man doch noch das bedürfnis hat, jemand zu sein, nimmt man das premium-abo für 49.90 franken und darf aus den oberklassewagen aussuchen…