Made in America

O. J. Simpson nach seinem umstrittenen Freispruch 1995. Er war des Mordes an seiner Ex-Frau und deren Freund angeklagt gewesen. Foto: Myung J. Chun (Pool, Reuters)
Es gibt Momente, meine Damen und Herren, da wird einem bewusst, wie alt man ist. Zum Beispiel letzte Woche, als in Nevada die Bewährungsanhörung für O. J. Simpson (70) stattfand. Millionen Amerikaner verfolgten diese Anhörung übers Fernsehen, wenn auch nicht mehr so viele Millionen wie damals den spektakulären O. J.-Simpson-Mordprozess Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts (der Herrn Simpson freilich nicht hinter Gitter gebracht hatte; er sass wegen bewaffneten Raubs und Körperverletzung). Aber Millionen Amerikaner, und noch mehr Europäer, dürften andererseits gar keine Ahnung mehr haben, wer O. J. Simpson überhaupt war respektive ist. Ja, das ist das Paradoxe: Menschen, die heute so Mitte 20 sind und niemals ein Telefon mit Wählscheibe bedient haben, wissen nicht und haben nie gewusst, wer O. J. Simpson überhaupt ist oder war – dabei hat O. J. Simpson massgeblich jene Kultur geformt, in der sie sich aufhalten, die sie umgibt.
Der Ruin der Popkultur
Denn der Mordprozess um den einstigen Football-Helden im Jahre 1994, in einer Ära noch vor Internet und Social Media, ist als Inauguralereignis zu betrachten, als jenes «Event», das die Grenzen zwischen «Celebrity» und «Infamy» aufhob, zwischen «berühmt» und «berüchtigt». Und damit die amerikanische Popkultur ruinierte. Und damit unser aller Popkultur. An den kulturellen Folgen tragen wir noch heute. Der gesamte Kardashian-Hilton-Housewives-Komplex ist aus den qualmenden Trümmern des Wracks hervorgegangen, das der O. J.-Prozess war. Vor dem Prozess hatte Berühmtheit mit Bedeutung und Besonderheit zu tun, danach mit: Präsenz und Selbstzurschaustellung – jedenfalls in der Liga der sogenannten Reality Stars.
Im Falle Simpsons stiessen, wie jetzt kürzlich gerade wieder im Fall des Schauspielers Bill Cosby, erstmals jene beiden Faktoren aufeinander, die für die amerikanische Kultur so bedeutsam sind, nämlich: Hautfarbe und Berühmtheit. Das zeigt beispielsweise sehr eindrücklich die siebeneinhalbstündige, oscarprämierte Dokumentation «O. J. – Made in America», die ich Ihnen nachdrücklich empfehlen möchte.
Englischsprachiger Trailer zu «O. J. – Made in America». Quelle: Youtube
Spitzensportler als Helden
Was der Film weniger in den Vordergrund rückt, wäre ein drittes kulturelles Phänomen: die Heroisierung von Spitzensportlern. Die Sportmetapher ist zum Lösungsalgorithmus für das Leben in der Leistungs- und Steigerungsgesellschaft geworden; der Sport mit seinem Kult und seinen Mythen hat vielerorts die Religion ersetzt: die kathedralisch anmutenden Stadien, die vergöttlichten Spieler, die kultischen Handlungen der Anhänger bis hin zu Massenpsychose und Ekstase, die Idolisierung der Überwindung von Widerständen (hier meist physischer Art). Durch die Prinzipien Steigerung, Technisierung und Beschleunigung sind Sport und Spätmoderne eng verknüpft, begleitet von Körperkult, modernen Medien und der zivilisatorischen Trennung von Arbeitssphäre und Freizeit.
Die Trivial-Mythifizierung des Spitzensportlers bringt die entsprechende Fallhöhe mit sich, zu besichtigen am Beispiel Simpsons (und zuletzt im Mordprozess gegen Oscar Pistorius). Aber (mutmassliche) Mörder sind ein Extrem. Vielmehr ist das Problem ganz allgemein die Vorstellung (und die Sehnsucht), dass Spitzensportler auch jenseits des Spielfelds irgendetwas Besonderes darstellten. Das tun sie a priori nicht. Das gilt sogar für so grundsympathische Menschen wie Roger Federer.
7 Kommentare zu «Made in America»
Da werden mir die Physiker immer sympathischer. Es soll ja so etwas wie Paralleluniversen geben. Weil, der Ruin des Pop, der fing mit einem etwas schräg gehauchten Geburtstagsliedchen an.