Eine Leitkultur ist unverzichtbar

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Die Freiheit in der Lebensgestaltung muss ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft sein: Ein schwules Paar mit einem adoptierten Kind. Foto: Jacquelyn Martin (Keystone)

Wir haben an dieser Stelle die Wichtigkeit von Werten als relativen handlungsleitenden Vorstellungen betont, meine Damen und Herren, gültig immer in Bezug auf bestimmte Kontexte. Werte sind Fiktionen, Narrative, eben keine Gewissheiten. Allerdings teile ich ausdrücklich nicht einen kategorischen Werterelativismus, wie ihn beispielsweise der Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer postuliert. Denn bei kategorischem Relativismus kann die Dynamik der Werte, ihr ständiges Abgleichen im Diskurs der Gesellschaft, auch regressiv verlaufen.

Das ist das, was der Psychoanalytiker und Kulturkritiker Slavoj Žižek als «Verfall von Werten» bezeichnet hat: der zivilisatorische Rückschritt. Werte dürfen nie starr sein, aber wir brauchen ein Fundament, das der Aufklärung, das, was man «Westliche Werte» nennen kann, Werte der Aufklärung als Grundlegung einer Ethik des Handelns. Man kann oder darf, auch dies ein Hinweis von Žižek, Universalität nicht vollständig auf Toleranz reduzieren. Dann entkoppelt sich der spätmoderne globale Kapitalismus von der Einhaltung der Menschenrechte, das heisst, wir landen effektiv wieder bei der Spaltung von Ökonomie und Moral.

Der Denkfehler des Werterelativismus

Das heisst: Ich sehe die Grundwerte der liberalen Ordnung als Eckpunkte einer westlichen Leitkultur. Ich weiss, dass «Leitkultur» ein provokanter Begriff ist, ich gebrauche ihn bewusst. In meiner Lesart verbindet dieser Begriff Werte mit Rechten. Ich stimme Žižek zu: Wir alle sind universelle Wesen mit bestimmten, nicht veräusserbaren Rechten. Das ist eine Idee der europäischen Aufklärung.

Unter deren Grundwerten verstehe ich: die Abwesenheit von Glaubenszwang, vollständige Gleichberechtigung der Gesellschaftsmitglieder, Schutz der Privatsphäre und das Recht auf freie Gestaltung des eigenen Lebens, also Selbstbestimmung. Solche Grundwerte wirken als Rechtfertigung einer säkularisierten Moral; nur wenn diese Basis der diskursiven Vernunft und vernünftigen Debatte unantastbar ist, können Werte als Verbindungen zwischen Menschen, als Korrektiv gegen Verabsolutierungen wirken. Nochmals Žižek: Dass diese Botschaft der Universalität heute zunehmend ignoriert wird, erschreckt und ist traurig, weil wir einen neuen Universalismus brauchen.

Der Werterelativismus von Sommer ist mir zu radikal und insofern leer; und er begeht einen Denkfehler. Es ist nämlich gerade kein begrifflicher Widerspruch, Werten Absolutheit und Universalität zuzuschreiben, obschon sie Werte immer nur im Verhältnis zu anderen Werten, anderen Dingen und Personen sind, für die sie gelten. Etwas selbst Unbedingtes kann durchaus etwas anderes bedingen, beispielsweise wertgemässe Handlungen, sofern dieses Unbedingte nicht den Anspruch irgendeiner letzten, metaphysischen Wahrheit erhebt, sondern viel schlichter einfach den Anspruch von formellen Regeln und Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Diskurs. Im Grunde bringt uns das zurück zur Diskursethik der Frankfurter Schule. Eine derartige Leitkultur ist weder metaphysisch noch religiös, sondern strikt diesseitig. Klingt trocken und langweilig. Ist aber die Basis der Freiheit.

50 Kommentare zu «Eine Leitkultur ist unverzichtbar»

  • Dodimi sagt:

    Mit WERTEN und deren Definition kommt man, m.E. schnell in „Teufels Küche“. Ich halte mich,soweit ich mich beurteilen kann an christliche und aufklärerische Werte. z. B. Nächstenliebe…wobei es auch bei mir „menschelt“. Werte…ein ständiges Abwägen in sich und im Bezug auf das
    Vis-à-Vis. Werte…ein ständiges sich in Fragestellen, das zumindest bei mir. Kürzlich erlebte ich etwas Besonderes: Mein Arzt ist homosexuell, ich def. Hetero. Wir verstehen uns gut. An diesem Tag war er wohl nicht so gut drauf und wollte mich irgenwie provozieren. Es endete mit dem konsequenten Satz: Wieso kommen sie noch in meine Praxis? Spontan gab ich ihm zur Antwort: “ Ich komme nicht zu ihnen weil sie etwas sind oder nicht sind, sondern weil sie ein guter Arzt sind! Damit war das Thema abgehanelt

  • Katharina I sagt:

    Und wer bestimmt, was ein Rückschritt ist?

  • gabi sagt:

    Dass es das Wort „Leitkultur“ geschafft hat, zum „provokativen Begriff“ zu werden, ist in sich bereits Hohn und Witz.

    Gerade, wo es doch von einem Menschen wie Bassam Tibi, also einem Intellektuellen mit syrischen Wurzeln, überhaupt erst im deutschen Sprachraum eingeführt wurde und als Beitrag zur Integration gedacht war.

    Also ausgerechnet vom Selben, der vor Jahrzehnten auch den Begriff „Euro-Islam“ in die Debatte einbrachte, auf den er lange alle Hoffnung setzte.

    … Und von dem er sich letztes Jahr (u.A. in einem Beitrag für den „Cicero“) hochoffiziell mit den Worten verabschiedete:

    „Der Euro-Islam ist gescheitert. Es wird ihn nie geben. Der Kopftuch-Islam hat gewonnen.“

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