Verhüllte Brüste als Anstoss

Giebel über dem Portal der Villa Calé in Berlin am 15. April 2015 und am 15. Juni 2017. (Foto: Keystone)
Das streng muslimische Emirat Katar besitzt eine denkmalgeschützte Villa in Berlin-Zehlendorf, meine Damen und Herren, die es zunächst jahrelang verfallen liess, nun denkmalgetreu renoviert hat. Weniger denkmalgetreu war, was dann folgte: die Verhüllung eines klassizistischen Giebelfrieses, den eine barbusige Frau schmückt. Aus «Sittlichkeitsgründen». Die Berliner Denkmalschutzbehörde könnte die Abnahme der Verhüllung verfügen – aber nicht durchsetzen, da diplomatische Residenzen unter besonderem völkerrechtlichem Schutz stehen und exterritoriales Gelände darstellen.
Über besagte Verhüllung ist man in Berlin und über seine Grenzen zu Recht empört, auch die «Berliner Abendschau» des Rundfunks Berlin-Brandenburg war empört, versuchte die Sache allerdings irgendwie mit Humor zu behandeln und verwies also unter Verwendung entsprechenden Bildmaterials darauf, dass nun, zum Sommeranfang, dem mitteleuropäischen Menschen tatsächlich nicht selten immense Zumutungen in Form von nackter Haut entgegenquellen. Das war lustig gemeint und ungefähr im Geiste meiner preussischen Grossmutter, die zu sagen pflegte: Man soll das Fleisch nicht ins Fenster hängen, wenn es nicht zu verkaufen ist. Es enthüllte aber gleichzeitig, da es bei der ganzen Diskussion ja schliesslich um Schamhaftigkeit geht, eine interessante Tatsache, nämlich dass das sogenannte Fremdschämen, bei dem man sich laut Duden stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämt, sich also für die Schamlosigkeit von anderen Leuten geniert, nicht selten in Wahrheit vor allem der eigenen Distinktion gilt. Solches «Fremdschämen» etwa für Leute, die im Sommer mehr als den gesellschaftlich zugelassenen Teil ihrer Reize zeigen, funktioniert als eine Art Ego-Validierung, das Gehirn löst ein Belohnungssignal aus: Die andere Person erscheint als minderwertiger Modus der Existenz, man selbst würde so was nie machen.
Die Überheblichkeit des Fremdschämens
Sogenanntes Fremdschämen hat also mit Scham nur noch wenig zu tun, wendet Scham im Grunde in ihr Gegenteil: Kontrolle, Lust, Macht und eine Überheblichkeit, die das als schamverletzend etikettierte Verhalten entweder pathologisiert oder exotisiert. Scham verändert die Machtgefüge in sozialen Interaktionen, indem sie den Beschämten herabsetzt, der im Empfinden der Scham gewissermassen die eigene Unterordnung unter den anderen anerkennt. Und das vermeintliche Fremdschämen ist eben häufig kein echtes Schämen, sondern der Impuls: Der oder die andere sollte sich schämen, tut dies aber offenbar nicht, weil er oder sie weniger zivilisiert ist als ich, der ich diese Scham empfinde. Damit ist solches «Fremdschämen» eigentlich nicht mehr von der eigentlichen Beschämung unterschieden, also jenen Äusserungen und Verhaltensweisen, die bei anderen gezielt Gefühle von Unterlegenheit, Reue und Scham inspirieren sollen.
Scham und Beschämung verhalten sich zueinander wie Demut und Demütigung. Beschämungen sind eine informelle Technik sozialer Schliessung und Kontrolle, um eigene Vorteile gegenüber fremden Aspirationen konservieren zu können und mutmasslich abweichende Lebensformen oder Kompetenzen als minderwertig zu typisieren. Die wesentliche soziale Funktion der Scham besteht hier in der symbolischen Gewalt stigmatisierender Bewertungen. Beschämungen sind ausserdem eine vormoderne Technik; wir erleben allerdings gegenwärtig ihre Rückkehr auf breitester Front, nicht zuletzt in der Sphäre des Politischen, befördert durch modernste Kommunikationstechnologien. Übrigens, apropos Vormoderne: Was Katar angeht, würde ich gern den manchmal ausrutschenden Kulturkritiker Slavoj Žižek zitieren, der hier vollkommen recht hat: Die Pflicht von uns Europäern ist es, uns nicht als die ultimativen Schurken der kolonialen Ausbeutung wegzuducken, sondern für das Erbe der Aufklärung zu kämpfen, das für das Überleben der Menschheit wichtig ist.
8 Kommentare zu «Verhüllte Brüste als Anstoss»
Endlich wieder mal ein guter Artikel von ihnen.
Gleichzeitig haben Sie noch alle modischen Stilregeln entlarvt: es geht um die Beschämung des „weniger zivilisierten“. Ihre wundervollen Worte über die Mechanismen, welche hinter solchem Ansinnen stehen, brauche ich jetzt nicht zu wiederholen. Sie kennen sei ja.
Wenn die Dame auf dem Dach aber weiterhin semibarbusig bleiben darf, muss (resp. darf!) ich mich dann auch lediglich semifremdschämen?
Oder muss ich mich gar an der Nase rumgeführt fühlen?
Erich Kästner hat in einem seiner Kinderbücher geschrieben: „Vergesst eure Kindheit nie!“ Zum Glück habe ich recht umfassende Erinnerungen an meine Kindheit und weiss deshalb, dass zumindest die Scham, sich nackt zu zeigen, ausschliesslich gesellschaftlich bedingt ist. Ich kann den Zeitpunkt meiner diesbezüglichen „Umerziehung“ sogar genau angeben: Der erste Schwimmbadbesuch in der Grundschule. Entsprechend dem unverkrampften Umgang mit Nacktheit im Elternhaus stand ich beim Umziehen einen Moment „unverhüllt“ da – als Folge vernahm ich Kichern um mich herum und spürte leichte Klapse auf mein Hinterteil. Ich will daraus kein schlimmes Trauma konstruieren – aber ich verlor ein gutes Stück Natürlichkeit und legte das nächste Mal, massenkonform, auch um meine Hüften das Badetuch. Schade!
Was der Herr Freud zur „Scham“, oder vielmehr deren Verlust meinte, ist in diesem erlauchten Kreise wohl hinlänglich bekannt. Es gab ja doch so manche zivilisatorische Begleiterscheinung, die unser Zusammenleben erleichterte. Ich jedenfalls bin heilfroh, wenn die figürlich ins Amorphe strebende Nachbarin sich gut verhüllt, nachgerade auch in ihrem Garten. Das Tingler’sche Axiom über das Verfüllen der Haut prozentual zum Alter könnte durchaus auch eine Erweiterung in Bezug auf die schiere Leibensfülle finden, die in jungen Jahren unbedeckt, welcher Hybris diese Damen auch immer erliegen, meist auch nur unschön anzusehen ist.
„Verhüllen der Haut prozentual zum Alter…..“ muss es natürlich heißen
Anstatt nur selber etwas verschämt über Verhüllungen von Denkmälern und Gebäuden zu debattieren, wäre es längst (und allerspätestens nach den muslimischen Reaktionen auf die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin!) an der Zeit endlich mal mit offenem Visier anzugehen, was doch inzwischen offensichtlich ist:
Dass es unseren Kindern in der Gesellschaft der Segregationsfanatiker, die sich unter dem Label „Islam“ sammeln, nicht mehr möglich sein wird, ebenso unbeschwert, frei und offen mit dem anderen Geschlecht aufzuwachsen, wie uns das noch möglich war.
Diese Entwicklung lässt sich weder leugnen noch verhindern, indem wir bloss feste weggucken. Im Gegenteil: Wir sollten es genau aus dem Blickwinkel angreifen, aus dem der Gesellschaft dieses Verhalten abgenötigt wird: Dem Religiösen.
Wir sollten die Frömmler mit dem Allwissenheitsanspruch ihres Gottesbildes konfrontieren und von ihnen eine Erklärung zu dieser blasphemischen Fantasie einfordern.
Denn um nichts anderes handelt es sich bei den Verhüllungsgeboten für Frauen.
Ein allmächtiger und allwissender Gott, Herr über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der die Menschheit vor zig Tausend Jahren geschaffen habe und seine perfekte Schöpfung über all die Zeit nach Gusto schleierlos durch die Welt laufen lässt…
Dem dann aber – exakt vor 1400 Jahren – plötzlich, und obwohl er dies ja schon bei der Schöpfung gewusst haben muss, nur den Frauen gegenüber, willkürlich die Idee kommt: „Du – so gehst Du mir aber nicht ausm Haus raus!“
Gott als Trottel. Gott als Vollidiot.
Oder aber als tumber Sadist!