Arbeitswerte. Wertarbeit.

Beziehungsarbeit, Trauerarbeit, Körperarbeit – alles scheint heute als Arbeit verstanden zu werden. Foto: Tim Grouw (Pexels)
Werte haben Konjunktur, meine Damen und Herren. Alle sehnen sich nach Werten, alle wollen sie, alle brauchen sie. Angesichts der umgreifenden Unsicherheit und moralischen Unruhe scheint es nichts Schöneres zu geben, als wertkonform zu handeln und sich dessen bewusst zu sein. Der Konsens der Werte sorgt für jenes Einvernehmen mit der Welt, das wir Kultur nennen. Werte sind überall, wirken weltbildfügend und bringen den Anschein des Gemeinsamen hervor. Sie sind Versprechen auf ein Gemeinsames, Werte spannen kommunikative Netze, mit denen man unterschiedlichste Wirklichkeiten einfangen kann. Fabelhaft.
Ganz offensichtlich sind die zeitgenössischen Werte von unterschiedlicher Güte und auch der Mode unterworfen. Anstand etwa hat als Wert eine andere Qualität als Fleiss. Kreativität hingegen ist derzeit sehr gefragt. Das Interessanteste jedoch aus philosophischer Sicht ist: Werte werden als Arbeit verstanden. Das fügt sich ein, wie der Philosoph Ralf Konersmann feststellt, in eine Wirklichkeit, die vom Daseinsmodell der Arbeit nahezu vollständig durchdrungen ist. Im Zuge der allseitigen Lebensoptimierung neigt die Gegenwart dazu, sämtliche Bereiche des Lebens als eine Modifikation von Arbeit zu betrachten; alles scheint als Arbeit verstanden zu werden: Beziehungsarbeit, Trauerarbeit, Körperarbeit, Überzeugungsarbeit… Unweigerlich gewinnen die Vollzüge des Lebens das Ansehen von Aufträgen, Anforderungen und Problemen, schreibt Konersmann, Gültigkeit und Verbreitung der Arbeitsmetapher verstehen sich bereits von selbst, sie sind unmittelbar evident.
Seelenruhe dank Anstand und Effizienz
Nicht nur Arbeit ist ein Wert geworden. Werte sind auch Arbeit. Man soll fortlaufend in sie investieren. Von Wertarbeit analog zur Beziehungsarbeit oder Trauerarbeit redet man nur deshalb nicht, weil dieser Begriff bereits anders besetzt ist. Der Wertekanon der Arbeitswelt zeigt übrigens auch in der digitalen Spätmoderne oft noch enge Beziehungen zum Wertekanon der protestantischen Ethik: Zentral ist der Gedanke der innerweltlichen Bewährung als Vorschein der profanen Erlösung.
Also: Der Mensch soll effizient und anständig sein. Dann gibts Seelenruhe zur Belohnung. Was aber andererseits typisch spätmodern ist: Es wird ein struktureller Gegensatz konstruiert zwischen immateriellen Werten und ökonomischen Werten; diese Kategorien werden gleichsam als Antagonisten moralisiert: entweder effizient oder anständig. Zusammen scheint das gar nicht mehr möglich zu sein.
Einerseits ist also alles Arbeit; andererseits aber sollen die ökonomische und moralische Sphäre, der die Werte zugerechnet werden, strikt getrennt und wesensmässig verschieden sein: Ethik versus Profit respektive Gewinnmaximierung versus wertgebundenes Handeln; Werte gegen Preise, wenn Sie so wollen. In diesem konstruierten Antagonismus liegt ein Widerspruch, der beide Entwicklungen behindert: die ökonomische und die moralische.
12 Kommentare zu «Arbeitswerte. Wertarbeit.»
Die Frage ist, ob es bloss ein „konstruierter Antagonismus“ ist oder ein systemisch notwendiger. Denn:
– Die Gesellschaft hat sich in Teilsysteme funktional ausdifferenziert, die sich anhand je eigener Codes operationell geschlossen haben (Luhmann)
– Damit ist jede fundamentale normative Instanz, wie die der Moral, obsolet geworden
– Dennoch verbleibt die nomadische Moral universell anwendbar – man kann immer nachfragen: ja, ist x aber auch gut? (G.E. Moore)
– Jede moral. Intervention wirkt somit für die amoral. Codes „störend“
– Aber: Es findet gerade eine Ökonomisierung der anderen Teilsysteme statt im Sinne einer „Kolonialisierung“ aller Lebensbereiche (Habermas).
– Dass also alles „Arbeit“ wird – oder „Herstellen“ – ist zu kritisieren (vgl. Arendts „vita activa“)
Ist der Soziologe Luhmann hier als Referenzperson geeignet? Moral ist für Luhmann kein soziales System und erst recht keine Integrationsformel für Gesellschaft, wie es Benjamin Kraus auch antönt; aber Moral ist eine gesellschaftsweit zirkulierende Kommunikationsweise – sie gilt, weil sie gilt. Der Code der Moral ist nach Luhmann die Differenz von Achtung/Missachtung und empirisch fassbar, im Unterschied etwa zu gut/böse. ― Der konstruierte Antagonismus ist aber jener von philosophischer Ethik versus Profit. Die strikte Trennung könnte nun mit Luhmann elegant überspielt werden, aber dann wäre Moral wieder ein System. Postuliert wird vielmehr eine Beseitigung der Behinderung auf der universellen Ebene einer philosophischen, ideell fundierten Ethik. Das ist keine Luhmann’sche Soziologie.
Oh, aufgrund der langsamen Durchlaufszeit habe ich die Replik gar nicht registriert. Höflichkeitshalber soviel:
Ich bin kein orthodoxer Luhmann-Exeget, dafür gibt es Seminare bzw. gab es sie in den 80er-Jahren 😉 . Sondern ich sehe seine durchaus plausible Beschreibung der modernen Gesellschaft im Zusammenhang mit der legitimen Kritik derselben Gesellschaft, etwa durch Habermas oder Arendt.
Worauf ich letztlich hinweisen wollte, war, dass der „konstruierte Antagonismus“ ein systemisch notwendiger ist, siehe funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und Moral als Umwelt der Funktionssysteme.
Das eigentlich Interessante nebst dieser idealisierten Reibungslosigkeit sind die Konflikte und die Kolonialisierungen qua Entgrenzungen von Codegebräuchen.
Dennoch ad hoc ein paar weiterführende Gedanken:
1. Ein historisches Beispiel einer universalisierten Moral, ist die institutionelle Organisation des Religions-System namens (katholische) Kirche, welche, um nicht selbst-referentiell in der paradoxalen Mystik zu verbleiben, den Code der Moral mit jenem der Religion gleichschaltete – also gut/böse bzw. Achtung/Missachtung mit Transzendenz/Immanenz bzw. Heil/Verdammnis – und so die Werte der anderen Teilsysteme imperial re-ligierte und fundamentalistisch de-ligierte (z.B. Krönung durch den Papst, Kirchenrecht, Zinsverbot, Bibel-Moral).
2. Zum „konstruierten Antagonismus“: Tingler spricht von „wertgebundenem Handeln vs. Gewinnmaximierung“ bzw. „Werte vs. Preise“ und gleicht daher schon eher dem Antagonismus „Moral vs. Wirtschaft“ als jenem von „philosophischer Ethik qua Reflexiontheorie der Moral vs. Profit“.
Geht es nämlich eher um die Entwicklung der Moral oder der Moraltheorie? Beides kann, obwohl im Prinzip unabhängig, natürlich zusammenhängen.
3. Zu ihrer „Beseitigung der Behinderung auf der universellen Ebene einer philosophischen, ideell fundierten Ethik“:
– Was ist nun der „Widerspruch in diesen Antagonismen“, das Enwicklungen behindert, wie Tingler konstatiert? _Dass_ dieser Antagonismus existiert oder der Antagonismus selbst? Beide Interpretationen sind möglich.
– Sollen etwa beide Codes gekoppelt oder gleichgeschaltet werden? Also: Was profitabel ist, muss auch gut sein. Und was gut ist, muss aber auch profitabel sein. Oder gut=profitabel?
Soll die Wirtschaft moralisch reprogrammiert werden? Oder soll die Moralität durch Optimalität ersetzt werden?
Gerade weil Moral kein universales integrierendes Super-System sein kann, soll Wirtschaft das Super-System sein?
– Oder soll gerade umgekehrt in Luhmann’scher Manier der Antagonismus dadurch aufgehoben werden, indem die Moral sich gänzlich von der Wirtschaft (u.a. Teilsystemen) löst, so dass die ökonomische (als auch die moralische) Entwicklung ungehindert fortlaufen kann?
Und nur wenn diese auf andere Bereiche illegitmerweise übergreift, sprich „koloniailsiert“ (Habermas) ihre (Rest-)Funktion übernimmt, nämlich den Codegebrauch der Funktionssysteme zu begrenzen – Moral und Ethik als „Alarmsystem“ (Luhmann).