Infantilisierung, überall

Zur Kulturbedeutung der Unruhe.
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Erwachsene lesen Kinderbücher: Ein Mann blättert im achten Band der «Harry Potter»-Reihe. Foto: Jean-Christophe Bott (Keystone)

In seinem lesenswerten jüngsten Werk «Wörterbuch der Unruhe» schreibt der Philosoph Ralf Konersmann: «Nicht die Unruhe ist das Neue der Neuzeit, sondern ihre fraglose Anerkennung, ihre totale Entgrenzung und überwältigende Normalität.» Und weiter: «Dass wir die Dinge nicht auf sich beruhen lassen, ist ausgemacht, und eben diese Ausgemachtheit, ihre Geräuschlosigkeit, bildet den negativen und gerade als diese Negativität zur Absolutheit fähigen Konsens der Moderne.»

Konersmann schreibt von der weitverbreiteten Sorge, nicht voranzukommen und auf der Stelle zu treten, von einer Gedankenordnung, in der Stillstand als Rückschritt gilt und Abwarten als Lähmung. Und fragt: «Wie konnte es geschehen, dass wir die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, die einmal die Namen des Glücks gewesen sind, gegen das Versprechen der Unruhe eingetauscht haben?»

Basis der Unruhe als kultureller Konvention, also Grundeinstellung der Spätmoderne, ist laut Konersmann die verbreitete Gewissheit, dass die Welt nicht ist, wie sie sein soll, dass sie also ihren eigenen Idealwert fortwährend verfehle. Diese Ausgangslage nennt er «ontologisches Gefälle», und besagte Diskrepanz sowie die Überzeugung, dass ein richtiges Leben im falschen undenkbar sei, liesse nur einen Schluss zu: dass die Welt so, wie sie ist, nicht bleiben kann, und in einer permanenten, niemals nachlassenden Veränderungsbewegung zurechtgerückt werden muss. Das spätmoderne Subjekt neige dazu, der wirklichen Welt jene möglichen Welten vorzuziehen, die wir nicht haben und vielleicht niemals haben werden. Die Folge ist: Unruhe.

Kulturelle Regression

So weit Konersmann. Aber da ist, wenn Sie mich fragen, meine Damen und Herren, noch ein anderes ontologisches Gefälle, eine andere Spannung. Denn besagter Kulturkonsens der Unruhe mit seinen Belastungen und Schattenseiten wie Hast und Nervosität, Stress und Burn-out, inspiriert Fluchtbewegungen. Die erwähnte «Sehnsucht nach Ruhe und Frieden» scheint eben auch eine hartnäckige anthropologische Konstante zu sein, ein Faktum des Menschseins.

Konersmann selbst diagnostiziert einen Trend zur Entschleunigung, mit dem man «schleunigst» den Schalter umlegen wolle, und sagt, dieser Trend und seine Ausdrucksformen wie die Abspeisung mit Wellness und Chill-out gehörten selbst zu den Denkschablonen einer Unruhekultur, genauso typisch für die spätmoderne Beschleunigungsgesellschaft wie jene Formen erzwungener Untätigkeit, die durch Ausfälle, Verspätungen oder Staus verursacht sind. Doch ich denke, jene kulturellen Bewegungen, die nach Beruhigung streben, sind viel weiter zu fassen: die pseudo-ironische Retroseligkeit des Hipsters gehört ebenso dazu wie eine neo-kontemplative Idyllisierung des Landlebens, zum Beispiel. Dahinter steht stets das Versprechen, zu einer gut sortierten, überschaubaren Welt zurückzukehren. Oder eine solche neu zu erschaffen.

Zum Beispiel auch durch die Kunst. Etwa die Literatur. Der bekannte amerikanische Literaturkritiker James Wood hat den Erfolgsroman «Der Distelfink» als Jugendbuch bezeichnet: Fantasieweltähnliche Handlung, Komplexitätsreduktion, märchenhafte Züge in den Typen, Charakteren und Konstellationen, überfrachtete Botschaft, ans Ende geklebt. Kurz nachdem der «Distelfink» mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden war, erklärte Wood dem Magazin «Vanity Fair»: «Nach meiner Einschätzung ist die Begeisterung für dieses Buch ein weiterer Beleg für die fortschreitende Infantilisierung unserer literarischen Kultur: Wir leben in einer Welt, in der Erwachsene ‹Harry Potter› lesen.»

Mit anderen Worten: Kulturelle Regression. Infantilisierung als Reaktion der Beschleunigungsgesellschaft auf die allgegenwärtigen Routinen der Unruhe. Mit nochmals anderen Worten: Erwachsene lesen Kinderbücher, weil sie die Welt nicht mehr verstehen. Aber vielleicht ist der Distelfink ja auch ein Meisterwerk. Wie las man ausserdem in «Vanity Fair»: Henry James nannte einst Charles Dickens den besten der oberflächlichen Literaten.

25 Kommentare zu «Infantilisierung, überall»

  • Meinrad sagt:

    Gerade auch kleinere Kinder, also jene mit den kleinen Händen, können sehr stark in ihren Überzeugungen, die vielleicht naiv sind oder die Eltern auch zur heiteren Provokation reizen, sein. Aber die Kinder bleiben dabei. Das ist nichts Schlimmes, denn mit der körperlichen Entwicklung geht auch eine Entwicklung des Denkens in die Richtung einer Anerkennung der Meinungsvielfalt und des Abwägens einher. Wenn die Infantilisierung bei Erwachsenen, die sich zerstreuen wollen, auch eine Rückkehr zur kindlichen Phase der festgezurrten Überzeugungen bedeutete, wird es heikel. Die Folge wäre eine Verengung oder sogar ein Absterben der Meinungsvielfalt als einer Trägerin der Freiheit. Der adulte Meinungspluralismus darf keinen Schaden nehmen, denn ein Monismus (hier als Extrem) wäre gefahrvoll.

  • Harry sagt:

    Aber, aber, Herr Dr. Tingler… Der Harry ist doch kein simples Kinderbuch… Was war denn da los? Danebenliegen ist doch sonst nicht Ihre Art! Aber hier müssen Sie wohl nochmals über die Bücher. Wortwörtlich.

  • Kristina sagt:

    Ich denke darüber nach, was mich zu einem Leseentscheid bringen würde um einen dieser Autoren zu lesen. Interessanterweise beschäftigten mich diese Gedanken beim Kauf eines Tagi-Abos nicht, obwohl ich für das finanzielle Äquivalent eine nette kleine Menge dieser Bücher hätte erwerben können, würde ich sie denn lesen. Dass Sie das für uns tun – putzig oder plastic is fantastic wie ein Bekannter von mir zu sagen pflegt. Nicht ganz frei von einem ironischen Unterton. Ich lese lieber den Blog dazu, der mich an tibetanische Gebetsfahnen erinnert. Wenn Sie also das nächste Mal einen David entdecken, lassen Sie es uns wissen.

  • Eva Dillier sagt:

    Da sind wir mal nicht gleicher Meinung, Herr Tingler… Auch wenn ich Ihre Weltanschauungen verehre und ihre Eloquenz und Humor sehr schätze, muss ich Ihnen hier wiedersprechen. Es mag sein, dass Kindergeschichten etwas einfacher gewoben sind. Ich würde doch das Lesen von Kinderbücher doch nicht als infantil bezeichen. Es kann, meiner Meinung nach nicht schaden Kinderbücher zu lesen. Als Mutter einer Tochter, die bereits mit sieben Jahren fasziniert ist von der Geschichte und sich bereits durch das zweite Buch bemüht, lese ich mich zum ersten Mal durch die Reihe, auch um mich in die Kinderwelten einfühlen zu können. Dieser Aspekt entgeht wohl, wenn das Phänomen rein durch die Vernunft untersucht wird. Abgesehen davon finde ich es nicht verwerflich, wenn die Welt auch mal einfach sein darf.

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