Die Stimme der Kritik

Explosionsgefahr auf zwei Beinen: Für manche Typen gibt es wenig Belebenderes als das Gefühl von tabula rasa nach einem kleinen Wutanfall. Foto: Ryan Forsythe (Flickr)
Sie haben es sicher im «Tages-Anzeiger» gelesen, meine Damen und Herren: Tests haben gezeigt, dass beispielsweise Netflix-Abonnenten nicht diejenigen Filme gut bewerten, die ihnen tatsächlich gefallen haben, sondern jene, von denen sie denken, dass man sie gut finden sollte. Das heisst: Unsere geschmacklichen Entscheidungen sind letztlich nicht nur ein Spiegel der Person, die wir sind, sondern auch jener, die wir gern sein möchten. Gerade bei Urteilen in aestheticis, die immer auch als Statusfrage verstanden werden, macht sich betrüblicherweise die Neigung zum vorschnellen Konsensus bemerkbar, übrigens auch zum Beispiel im institutionalisierten Literaturbetrieb, wo ich manchmal arbeite.
Wie viel interessanter und attraktiver ist da doch der aktive, dynamische, kritische Typ! Und, wenn Sie mich fragen, auch ganzheitlich gesünder. So ein bisschen Kritik fördert den Stoffwechsel, die Durchblutung von Bewegungsmuskulatur und Gehirn sowie die Leistung des Herzens; ja, ich möchte sogar so weit gehen und behaupten: Es fördert die Erfahrung von Nicht-Dualität, der Nicht-Zweiheit der Wirklichkeit, den Flow, die Gewahrwerdung, dass alles und alle Teil derselben Realität sind; es fördert die Achtsamkeit, bloss natürlich nicht so nicht-beurteilend, sondern total wertend. Das ist Kritik!
Wie die dampfende Frische nach einem Gewitter
Das treffende Wort ist stets gehässig. Das ist von Thomas Mann und selbst ein wenig gehässig (wie Thomas Mann es manchmal sein konnte). Ist es auch treffend? Prüfen Sie sich. Vielleicht sind Sie ja der Typ, der wenig Belebenderes kennt als das Gefühl von tabula rasa nach einem kleinen Wutanfall oder einer gut platzierten Zurechtweisung oder einer erfolgreichen Reklamation? Herrlich ist das! Nur mit der dampfenden Frische nach einem Gewitter vergleichbar. Dafür pfeif ich auf inneren Frieden. Innerer Friede ist was für Versager, würde Donald Trump sagen. Beziehungsweise, wie so vieles im Leben, eine Stoffwechsel-, eine Konstitutionsfrage, und die Leute, die inneren Frieden für sich reklamieren, sind in der Tat bisweilen so selbstfixiert und langweilig, dass ihr Inneres eigentlich niemand kennen lernen möchte – respektive kennen lernen kann, weil einem zuvor der Kopf nach hinten gefallen ist, weil man mit offenem Mund eingeschlafen ist.
Besonders schwer erträglich sind solche Inhaber des inneren Friedens regelmässig dann, wenn sie auch noch missionarischen Eifer entwickeln und einen unbedingt bei einer Tasse Matetee aus fairem Handel von den Vorteilen veganer Zero-Waste-Lebensweise überzeugen wollen, achtsam in sich ruhend und so. Und dann gucke ich mir die Leute so an und denke: okay. Das ist also das Ergebnis von soundsoviel Jahren Meditation nach der Lehre eines okzidentalisierten Neobuddhismus. Naja. Danke für Backobst.
Denn, machen wir uns nichts vor: Viele vollkommen natürliche Vorgänge werden durch ihre wellnessmässige, pseudomeditative Bewusstwerdung überproblematisiert, zum Beispiel Atmen oder Essen. Der normale, durchschnittlich erleuchtete Mensch atmet und isst – das nervlich zerrüttete Wellness-Subjekt hingegen hetzt sich ab zwischen Trennkostseminaren und Atmungsworkshops und verschiebt zwischendurch noch rasch feng-shui-mässig sein Ektorp-Sofa von Ikea. Ohne mich. Ich besitze auch überhaupt nichts von Ikea. Schon der Geruch dort macht mich wahnsinnig.
14 Kommentare zu «Die Stimme der Kritik»
Es gibt diese Kolumnisten, die – egal welchen Thema sie sich widmen – in aller erster Linie immer vermitteln, wie sie so drauf sind. Vielleicht ist das ja gerade die Idee von Kolumnen. Dem müsste ich mal auf dem Grund gehen. Trotzdem finde ich es irgendwie erbärmlich, sich ständig in der Abgrenzung zu Menschen, die man doof darstellt (und die es so vermutlich gar nicht gibt) zu profilieren. Ausser ich tue das. Dann find ich es ok. Und ich besitze übrigens Möbel von Ikea. Der Geruch dort geht mir am Hintern vorbei.
Das war vielleicht etwas zu viel Thomas Mann?! Canapes sind immer salzig, habe ich soeben gelesen. Mein Unwissen hat mir auch eine interessante Kulturreise beschert. Gefühlte zweihundert Jahre Biedermaier aka Kollege Essig – aber nix eigenes dabei. Also dieser Ottomane, da sagt schon der Name woher das kommt und beim Baldachin zur Gardine zum Vorhang ist es auch nicht weit. Das macht mich auf das Land, das mir meinen Namen gab und der Welt Teppiche schon ein bisschen stolz. Und Schweden? Die haben den Elchtest. Ich meine, was unterscheidet die Entwicklung von den Persern zu deren der Wikinger? Der Elchtest. Wer ist schon so klug die fremden Erfindungen als die Eigenen zu bezeichnen und der ganzen Welt unterzujubeln?
Stimmt: Nur schon der Geruch ist eine Zumutung. Am Schlimmsten in der Kerzenabteilung!
Ich erlebte schon äusserst unangenehme Abende, weil ich mich getraute, eine These des Gastgebers (z.B. „in den 50ern wars doch viel angenehmer“) anzuzweifeln. Seither bin ich eher auf dem harmonischen Trip.
Es gibt auch viele Leute, für die gibt es nichts besseres, als anderen Leuten an’s Bein zu pinkeln. Also machen sie absichtlich Fehler, schicken doppelte Rechnungen, erfinden irgendwelche Gesetzesartikel oder meinen bspw. als Polizist, sie könnten darüber entscheiden, ob etwas behandelt wird oder nicht. Für mich haben Wutausbrüche vor allem damit zu tun, wenn ich merke, dass man mich für dumm verkaufen möchte und ja, das hat in der Schweiz, speziell hier in Basel, massiv zugenommen! Leider spielt sogar das Bundesgericht mit. Man kann also schon Bundesrichter kaufen. Das hat für mich nichts mehr mit dem zu tun, was es eigentlich symbolisieren sollte. Ist wohl Herrliberg’scher oder linker „Spass“.