Geschichten sind Gold wert

Ein Nachlass von literarisch zweifelhaftem Wert: Die österreichische Autorin Ingeborg Bachmann im September 1965. Foto: AP, Keystone
Aah, diese wundervollen geistigen Moden aus Frankreich, meine Damen und Herren. So wie sich unlängst das Feuilleton auf den Hobbyschriftsteller Didier Eribon stürzte und davor auf den Ökonomen Thomas Piketty, so stürzen sich nun alle auf die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre mit ihrem Ansatz der Enrichment Economy. Im Wesentlichen geht es bei dieser Theorie des Enrichment, also der Anreicherung, um Erzählungen und Überlieferungen als ökonomische Ressource. Der Ansatz besagt, dass Objekte mit Narrativen versehen werden, die ihren Wert erhöhen. Lapidar liesse sich der Grundgedanke wie folgt paraphrasieren: Häng ’ne Story an das Ding, dann verkauft es sich besser.
Diese Theorie ist nun überhaupt nichts Neues, auch nicht die Würdigung der Geschichte als Wirkkraft des kapitalistischen Systems. Der amerikanische Kulturhistoriker Paul Fussell hat in seinem lesenswerten Buch «Class» bereits vor rund 30 Jahren dargelegt, dass die gesellschaftliche Vereinbarung dahin geht, die Qualität und den Status (und damit auch den Preis) von Sachen damit in Verbindung zu bringen, wie alt und echt sie sind. Und «alt» und «echt» heisst ja nichts anderes als: aufgeladen mit Geschichten. Zum Beispiel die der Voreigentümer. Deswegen konnte Marilyn Monroes Happy-Birthday-Kleid unlängst 4,8 Millionen Dollar erzielen.
Ebenfalls nicht neu ist die von Boltanski und Esquerre vorgenommene Kategorisierung von Kunst als Anreicherungsobjekt par excellence. Im Fall der Kunst erzählen vor allem Kritiker und andere (mutmassliche) Sachverständige jene Geschichten, die eine Wertsteigerung des Objekts ermöglichen. Darinnen besteht der Siegeszug der Katalogkunst, die den Text benötigt, um zu wirken. Und Umsatz zu generieren.
Anreicherung in der Literatur
Ich selbst möchte nun meinen eigenen kleinen Beitrag zur Theorie der Anreicherung leisten, indem ich den naheliegenden Schritt tue und den Anreicherungsansatz auf jenes Feld beziehe, auf dem ich mich ein wenig auskenne: Literatur. Auch hier lässt sich von einem Betrieb reden, von einem Markt, und von Steigerung des Marktwerts durch Anreicherung, nämlich: Anreicherung von textuellen Belanglosigkeiten durch übersteigerte Exegese, hypertrophe Pseudokritik, Bedeutungsgeraune. Ein famoses, gerade wieder aktuelles Beispiel für diesen Vorgang ist: Frau Bachmann. Ingeborg Bachmann.
Ich wiederhole an dieser Stelle gern, falls Sie es noch nicht gehört haben sollten, dass für mich persönlich das Bemerkenswerteste an Ingeborg Bachmann ihre fortdauernde Überschätzung darstellt. Frau Bachmann gehört zweifellos zu den meistüberschätzten Autorinnen des 20. Jahrhunderts, und der Anreicherungskonsens ist in ihrem Fall derart strikt, dass sich das immer noch niemand zu sagen traut ausser mir. Besagte Überschätzung findet ihren zeitgenössischen Ausdruck in der Publikation einer Werkausgabe, deren erster Band ausgerechnet mit Traumprotokollen und anderen persönlichen Notaten aufwartet, aus den frühen 1960er-Jahren, nachdem Frau Bachmann von Max Frisch abserviert wurde, worauf das Feuilleton jene Zeit als «Schreckensjahre 1962–1964» tituliert. Anreicherung, eben.
Was taugt, funktioniert ohne Begleittext
Die Texte des Bandes «Male oscuro» haben sehr privaten Charakter und stammen aus dem ursprünglich gesperrten Teil des Nachlasses. Sie sind überdies literarisch von überaus zweifelhaftem Wert. Ich würde das ja auch über den Rest von Frau Bachmanns Schöpfungen behaupten, aber zumindest bei diesem ersten Band der Werkausgabe kann kein Zweifel bestehen: Es handelt sich um ein Musterbeispiel für eine klassische Anreicherung: Die Aufwertung der Persona und Prosa und Poesie Bachmanns vermittels der systematischen Erzeugung von Drumherumgeschichten. Das Feuilleton trabt brav hinterher und schreibt, beim Lesen von Ingeborgs Traumprotokollen werde «eine rhizomatische Vernetzung von Symbolen und Motiven mit dem Traumkapitel in Malina sichtbar». Beide erzählten von der «Dissoziation weiblicher Identität».
Dazu sage ich: Meh. Weiterhin sage ich: Literatur, die was taugt, funktioniert ohne Begleittext. Und drittens sage ich: Frau Bachmann ist gewiss keine Meisterin der Ironie. (Das unterscheidet sie, auch als Lyrikerin, etwa von Goethe. Bei Goethe geht es um ironische Versöhnung mit der Welt, bei Ingeborg um die ichbezogene, oft sentimentale Distinktion.) Jedoch es schwebt in der Tat eine Ironie über dem Leben der Frau Bachmann. Und die besteht darinnen, dass sie, die sich mutmasslich immer gegen den sogenannten Literaturbetrieb ausgesprochen hat, nun selbst einen florierenden Betrieb am Leben erhält. Geschichten können Gold wert sein. Sogar wenn sie schlecht geschrieben sind.
18 Kommentare zu «Geschichten sind Gold wert»
Die Aufwertung einer Person oder einer Sache hat schon immer funktioniert. Der literarische Wert von Ingeborg Bachmanns Schriften steht, auf sich selbst gestellt und ohne Anreicherung durch Geschichten, meiner unbedeutenden Meinung nach nicht ausgesprochen glänzend da. Die Geschichten, bei welchen es sich auch um Liebesgeschichten, um Affären handelt, wirkten bei den Werken von Ingeborg Bachmann wie der Turbokompressor bei einem Verbrennungsmotor; leistungssteigernd.
Meine Mutter sagte jeweils: jeder Narr tut ein Zeichen. Herr Tingler (Dr.) hat das Sprichwort perfekt bestätigt.
Myon hat mir gesagt, er sei total froh über all diese Anreicherungen. Es hilft ihm das menschliche Bewusstsein besser zu verstehen, äh zu kopieren, äh zu adaptieren. Big Data halt. Und zeigt mir ein verlegenes Lächeln auf seinem Screen.
Nach der ganzen Anreicherung müsste Bachmann jetzt mehr Wert besitzen, am Ende der anreichernden Einlassung hier hat sie aber jeden Wert verloren.
Paradoxes Schicksal der weinerlichen Heulsuse.