Goethe als Vorbild

Ironie und Moral: Das Denkmal von Goethe (links) und Schiller, wie es die Nachwelt in Weimar bestaunen kann. Foto: Jens Meyer (AP Photo/Keystone).
Warum Goethe, meine Damen und Herren? Warum geht diese zeitlose Faszination von Goethe aus? Wenn Sie mich so fragen, möchte ich spontan antworten: Weil dieser Dichter, Goethe, als Existenz eine Qualität verkörpert, die in einer trivialisierten Form zur Leittugend der Digitalmoderne aufstieg: das Selbstschöpferische. Die Biografie wird zum Projekt. Aus dem Leben ist ein Kunstwerk zu machen.
Nicht der Erste auf Goethes Spuren
Die Annäherung an Goethe ist auch eine literarische Tradition, neuerdings ins 21. Jahrhundert fortgeschrieben durch den Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. In seinem letzten Roman «Der weisse Freitag» wird Goethes Überquerung des Furkapasses anlässlich seiner zweiten Schweizreise im November 1779 als gesuchte Probe mit dem Schicksal stilisiert und auf sein, Muschgs, eigenes Dasein reflektiert. Doch Muschgs Buch wird nicht nur von Goethe überschattet; ebenso sehr hat es zu tun mit einem weiteren berühmten Abwesenden: Thomas Mann. Thomas Mann ist immerhin der Schriftsteller, der die mystische Identifikation mit Goethe perfektioniert hat; eine Nachahmung allerdings nicht im Sinne einer Kopie, sondern im Sinne einer Nachfolge, eines In-Spuren-Gehens, einer mythischen Wiederkehr des Typus. Und all die Motive des Mann’schen Goethe-Mythos tauchen auf bei Adolf Muschg: Goethe als Repräsentant für das Naive, Lebensbejahende, Gesunde, Lebendige; Goethes pantheistische, alles umgreifende Qualität; Goethe als Welt- und Glückskind, was das Leben als Kunstwerk begreift, um es mit treffenden Worten zu erledigen.
Ironiemangel
Muschgs Buch trägt den Untertitel «Erzählung vom Entgegenkommen», und dieses Entgegenkommen wird von Muschg im «Weissen Freitag» auch ganz buchstäblich versucht: Er unternimmt einen winterlichen Gang auf die Furka – und kapituliert. Doch auch was die Begegnung mit Goethe in der Psyche und Dichtung anbelangt, scheitert Muschg. Er scheitert zunächst, weil er kein Ironiker ist. Dieses Manko ist umso interessanter (und tragischer), da Muschg die Bedeutung der Ironie betont: Ironie sei oft genug die einzige Form, mit der das Menschliche vor dem Schicksal zu vertreten wäre, schreibt er. Um dann, wie zuvor, völlig unironisch weiterzuschreiben. Man könnte sagen: Muschg schätzt die Ironie abstrakt als Stilmittel, aber er beherrscht sie nicht, schon gar nicht als Haltung.
Denn die ironische Haltung ist auch eine der Kühle und Indifferenz, des Desengagements gar, was die Grundhaltung des Künstlers dem Leben gegenüber auszeichnet, sodass die künstlerische Anteilnahme nur in der Form allumfassender Ironie möglich wird – wie für Goethe in «Lotte in Weimar», Thomas Manns famosem Goethe-Roman. Nur die Parodie alles Wirklichen ist für diese Position die adäquate Kategorie des Begreifens. Und so hängt mit dem Unvermögen zur Ironie eine weitere Wesensdifferenz von Goethe und Muschg zusammen: Muschg moralisiert, Goethe nicht. Herr Muschg ist gerade wieder in die Kirche eingetreten, hat in Zürich im Grossmünster gepredigt, und nicht wenig Predigt findet sich nun auch in seinem jüngsten Buch, was damit in schärfsten Gegensatz zu Goethe tritt, dem es eigentlich entgegenkommen möchte. Goethe jedoch ist, und so hat zum Beispiel Thomas Mann ihn auch erfasst, gerade der Prototyp des nicht moralisierenden Schriftstellers. Deshalb sah Thomas Mann Goethe stets im Gegensatz zu Schiller, und dies wiederum ist ein Gegensatz, der Muschg entgeht.
Plastik und Kritik
Thomas Mann aber fasst diesen Gegensatz in die Antithese von Plastik und Kritik: Plastik ist die objektive, naturverbundene und schöpferische Anschauung, wie Goethe und Tolstoi sie vertreten, Kritik dagegen die moralistisch-analytische Haltung zum Leben und zur Natur, für Thomas Mann repräsentiert durch Schiller und Dostojewski. Und ein moralisierender Melancholiker ist nun auch Muschg, wenngleich leider nicht auf Schillers Niveau. Thomas Mann aber bewundert und imitiert die Weitherzigkeit und Grosszügigkeit Goethes, die es gegenüber der Einheit der Natur als kleinlichen Anthropomorphismus abtut, in dem zufälligen Ausschnitt des Geschehens, den wir als Moral bezeichnen, den Höhepunkt des Seins zu erblicken. Oder, in den Worten von Oscar Wilde: «Moral ist die letzte Zuflucht derer, die die Schönheit nicht begreifen.»
Lesen Sie auch Kulturredaktor Martin Ebels Besprechung von Adolf Muschgs «Der weisse Freitag» und das TA-Interview mit dem Schriftsteller zu seinem Kirchen-Wiedereintritt.
9 Kommentare zu «Goethe als Vorbild»
Abgesehen von einigen bedenkenswerten kritischen Reflexionen Tinglers bleibt es dabei, dass Muschg so etwas wie ein spätes Bekenntnis zum Bildungsbürgertum verfasst hat, eigentlich genau das, was in der Schule bei steigenden Kosten trotzdem nur noch ausnahmsweise vermittelt wird.
Ohne dieses der Umgebung Zugetan Sein, verlöre ich mich in der Geschäftigkeit und der Übermacht des Stroms, würde einzig nur diesen Gegensatz, dieser nur scheinbar natürlichen Ordnung ohnmächtig gegenüber stehen. Einer Gipfelbesteigung gleich. Nur dass die Extremsituation den Instinkt, eine beschränkte Wahrnehmung evoziert, die die Risikooptimierung als ein in Einklang bringendes Problem zweier Gegensätze denkt.
Dazu sagte Goethe:
Aber die Seele begehrt, und sie wird nimmer befriedigt.
Denn sie bildet sich ein, sie sei von höherem Ursprung.
Damit ist der niedere Instinkt begründet und Kultivierung mannigfaltig zu rechtfertigen, Auswüchse in ihrer Andersartigkeit abzutun. Schiller spiegelt Goethe, blendet die Akademie und leuchtet dem zugetanen Betrachter. Will ich den Burgring überqueren, brauche ich nur dem Licht der Ampel zu folgen; es beleuchtet die Betriebsamkeit, den Puls der Stadt, träumend lässt sich darin wandeln.
Nehme ich mich als Persona wahrhaftig, erschliesst sich eine weitere Dimension, über das Selbstbewusstsein hinaus. Meine Freiheit. Einen Blick zu wagen, einen Moment Zeit aufzuwenden um das Ganze zu erleuchten. Mit der Wahrnehmung des Zugetan Sein, auf die Umgebung hin, Bewusstsein erzeugen und Raum zu geben. Das ist des Menschen Ding. Leider stolpere ich beim Staunen über den fiesen kleinen fünfzehn Centimeter hohen Eisenzaun um die Grünfläche des Goethemonuments herum.
Vielen Dank für diese kurze aber sehr scharfsinnige Analyse! Bin schlicht beeindruckt und werde den Goethe gleich aus dem Regal holen…