Originalität macht noch keine Kunst
«Nur wo das Ich eine Aufgabe ist, hat es einen Sinn, zu schreiben», hat Thomas Mann festgestellt, meine Damen und Herren, und er hat recht in dieser typischen Thomas-Mann-Art, im grossen, grundsätzlichen Sinn.
Und in dieser typischen Thomas-Mann-Denkweise kann ihm dabei auch keinesfalls jene hermetische Innerlichkeits-Schrottprosa vorgeschwebt haben, mit der wir es heute im Literaturbetrieb, zumal dem deutschsprachigen, leider so häufig zu tun haben. Wo unmassgebliche Privatgeschichten und Privatzustände ausgebreitet werden, wo es nur ums Ich geht, wo die Welt bloss als Spiegel dient.
Literatur als ironische Weltumarmung
Das ist das genaue Gegenstück zu einer Art von Literatur, wie sie beispielsweise Goethe vorgelebt hat, das mythische Vorbild Thomas Manns, nämlich einer Literatur der ironischen Weltumarmung. Denn letztlich bietet sich das Goethesche Existenzbild so dar: Die Identität von Geist und Natur, Gott und Schöpfung, Wille und Vorstellung, das pantheistische Eins in Allem, Alles in Einem tritt als Konsequenz einer Überzeugung auf, nach der die tiefste Schicht der menschlichen Natur, jenes ganz Primäre und Absolute, in dem alles eigentlich Benennbare des Wesens erst wurzelt, ein Gefühl von dem elementaren und den Menschen selbst einschliessenden Zusammenhang allen Seins ist.
Das wollen wir mal festhalten. Und Thomas Mann? Nun, für den Verfasser des «Tonio Kröger» bestand die Wesensrichtung des Künstlers darin, in allem, was er tat, schuf und äusserte, seine Persönlichkeit zu entwickeln. Philosophischer könnte man sagen: Der Gegensatz zwischen der inneren Anschauung und dem äusseren Objekt ist für Thomas Mann in der künstlerischen Existenz restlos aufgehoben.
Das Selbst ist eine Insel
Nun gibt es, allgemein, wenig Schlimmeres als biedere Leute, die sich für unkonventionell halten – ein Schlag übrigens, der durch Geist und Stimmung unserer Zeit besonders gefördert wird. Denn das Selbst, assoziiert mit Heidegger-Vokabeln wie Eigentlichkeit, mit wahrer Identität, mit dem, was uns in Wirklichkeit ausmache, – dieses Selbst gilt dem durch Multioptionsstress gebeutelten Individuum als letzter sicherer Rückzugsort in der gnadenlosen Non-stop-Transparenzgesellschaft.
Das Selbst ist eine Insel, zu besiedeln, zu kultivieren, mit bestimmten Ritualen und Inszenierungspraktiken, die nicht zuletzt die Werbung bedient: Badeperlen, Kräutertee. Gerne zitiere ich wieder einmal den Soziologen Georg Simmel: Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äusserlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren. Das wollen wir mal festhalten.
Kunst kennt keine Scheu vor der Konvention
Ich wiederhole: Es gibt, allgemein, wenig Schlimmeres als biedere Leute, die sich für unkonventionell halten – und als vermeintliche Schriftsteller sind solche Erscheinungen besonders peinlich. Grosse Künstler haben demgegenüber keine Scheu vor der Konvention. Originalität ist per se kein Kriterium von und für Kunst, weder notwendig noch hinreichend, sonst wäre Donald Trump ein Künstler. Oder Geert Wilders.
Denn was immer man gegen sie vorbringt, niemand kann abstreiten, dass diese Figuren leidlich originell sind; ja, es wird gelegentlich festgestellt, auch in dieser Kolumne, dass der Politikstil des neuen Populismus nicht wenig von der klassischen Aktionskunst und Strategie der künstlerischen Avantgarde der Moderne sich zueigen macht: Provokation, Tabubruch, Grenzüberschreitungen, Aussenseiterrolle, Selbstbezug und Selbstentblössung, Reduktion. Das alles ist unkonventionell, aber keine Kunst. Sofern man eine Grenzmauer nicht als Installation begreift.
6 Kommentare zu «Originalität macht noch keine Kunst»
sehr schön erklärt
vielen Dank 🙂