Schamlos
Wir stellen in dieser Rubrik immer wieder fest, meine Damen und Herren, dass der Diskurs der Innerlichkeit, des Psychischen, der Selbstfindung einer der gesellschaftlichen Leitdiskurse unserer Zeit ist. Gerade in unserer spätmodernen, post-metaphysischen Gegenwart wird das Ich als die letzte Sinnprovinz der eigenen Existenz zelebriert.
Interessanterweise aber vollzieht sich diese Bewegung nach innen zeitgleich mit einer Bewegung nach aussen: Dem Körper kommt heute, in unserer Ära der Bildlichkeit, wieder eine symbolische Bedeutung zu wie zuletzt in vormodernen Zeiten; der Körper wird gleichsam das entscheidende Repräsentativum der Person. (Jedenfalls in gewissen Milieus, die popkulturell bedeutsam sind.) Ungefähr wie bei Richard III. Gesund oder krank, bezaubernd oder unattraktiv, gepflegt oder verkommen, schlank oder dick auszusehen, wird der Person als Ausdruck innerer Wesensmerkmale angerechnet, als Verdienst oder Makel des eigenen Seins: Du bist so, wie du aussiehst. Da kannst du noch so sehr auf deine Innerlichkeit verweisen.
Soziale Abschottung
Nun ist der Körper von jeher, neben Persönlichkeit und Status, ein wichtiger Bezugspunkt sozialer Schamgefühle. Und von jeher sind Menschen aufgrund ihrer physischen Natürlichkeit beschämt worden, sofern ebendiese Natürlichkeit als ein Versagen vor gesellschaftlichen Leistungs- oder Erscheinungsnormen erschien. Neu ist allerdings die Moralisierung von Beschämungen, zum Beispiel bei Übergewicht über das Argument der Gesundheit.
Und neu ist auch die Reaktion der Beschämten in der spätmodernen Mediengesellschaft. Scham und Beschämung verhalten sich ja zueinander wie Demut und Demütigung. Beschämungen verändern über die symbolische Gewalt stigmatisierender Bewertungen die Machtgefüge in sozialen Interaktionen, indem sie den Beschämten herabsetzt, der im Empfinden der Scham gewissermassen die eigene Unterordnung anerkennt. Indem man sich schämt, teilt man die Fremdbewertung als Selbsteinschätzung und rechtfertigt seine Blossstellung als selbst verursacht. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre hat dazu gesagt: «Meine Scham ist ein Geständnis.» Beschämungen sind damit eine informelle Technik sozialer Abschottung. Und das hat auch stets funktioniert. Bis vor kurzem.
Ein Kunststück
Scham inspiriert Rückzugsverhalten, aber in der spätmodernen Mediengesellschaft inspiriert die rationalisierte Scham eben neu auch so etwas wie kontraphobische Extraversion, also das Heraustreten aus dem Schatten der Scham in den Kegel des Scheinwerfers, um die eigenen konventionellen Schwächen aggressiv zur Besichtigung freizugeben: Morbid übergewichtige Menschen kleiden sich in Latex und setzen sich in Talkshows und erklären, glücklich mit ihrem Körper zu sein, zum Beispiel. Hier scheint die Schamlosigkeit emanzipatorischen Charakter zu zeigen. Aber es liegt auch etwas Zivilisationsvernichtendes in ihr. Das emotionale Gegenstück zur Scham war früher Ehre, heute ist es Würde. Und Schamlosigkeit mit Würde zu vereinbaren, ist ein Kunststück, das eben meist nur grossen Künstlern gelingt.
25 Kommentare zu «Schamlos»
Teil 4: Was nun die Bedeutung des Körpers anbelangt, liegt in der Wiederholung eine gewichtige Akzent-Verschiebung inne. In der Antike war die Schönheit nur ein Aspekt der Triade des Guten-Wahren-Schönen und war idealiter somit auch ein Ausdruck eines wissenden bzw. weisen und tugendhaften Menschen (dass sie bei einigen zuweilen am wenigsten Gewicht hatte beweiste paradigmatisch Sokrates). Zur Verteidigung von Tingler darf man aber anmerken, dass von diesen Werten die diesseitigen Mächtigen und Reichen der Schönheit immer schon den Vorzug gaben. Doch investierte man im Sinne der Diversifizierung zur Sicherheit dennoch in alle diese Werte und zwar in Form von Kunstwerken (inkl. der Vorform von Photoshop), Kirchen (inkl. Ablass), Bibliotheken (inkl. Lehrer und Schreiber).
Teil 5: Im Gegensatz dazu gilt heute die Schönheit vielmehr als Ausdruck eines leistungsfähigen/erfolgreichen/reichen und gesunden/fitten Menschen. Die Triade wurde gleichsam säkularisiert, materialistisch oder polemisch und kulturpessimistisch gedeutet vulgarisiert, entmoralisiert, nämlich von:
– gut-wahr-schön vs. böse-falsch-hässlich zu
– leistungsfähig-gesund-schön vs. faul-krank-hässlich.
Es geht also weniger um einen guten Charakter, sondern um die äusseren Erfolge. Diese Hervorhebung äusserer Distinktionsmerkmale hatte eine Gewichtsverlagerung von einer protestantisch geprägten Schuldgesellschaft hin zu einer Schamgesellschaft (Benedict).
Teil 6: Sanktionen erfolgen also mehr durch äussere Autoritäten (inkl. Stilexperten) und weniger durch internalisierte Instanzen wie das Gewissen. Dabei sind das wieder nur Idealtypen, denn in Wirklichkeit gab es immer nur bestimmte Mischformen (insbesondere das spannungsreiche Christentum besass mit dem AT und NT von Anfang beide Pole). So gelten bei Norbert Elias‘ „Prozess der Zivilisation“ sowohl das „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen“ als auch die „Psychologisierung“ als zivilisatorische Errungenschaften, die ein friedliches Zusammenleben in immer komplexer werdenden Gesellschaften ermöglichten.
Teil 8 (@Carlos Mexito): Dazu einige Gedanken: Ehre ist ein (durch Tugendhaftigkeit) erwerbbarer aber auch veräusserlichbarer Status, d.h. wenn eine Person ihre ganze Ehre verliert, verliert sie ihr Gesicht, steht sie in ihrer ganzen Scham als nackter Mensch („homo sacer“) da und ist Schimpf und Schande ausgesetzt (wie bei einem „Walk Of Shame“). Sie verliert gleichsam den Status des zivilisierten Menschen, ja des Menschseins an sich und ist nun vulgär, barbarisch oder gar animalisch (Dehumanisierung). Ohne Ehrenrettung wird sie, wenn sie nicht selbst aus dem Leben scheidet, (zumindest temporär) ausgeschlossen, verbannt oder verliert den Bürgerstatus und wird vogelfrei.
Teil 9: „Würde“ stammt aus dem althdt. „wirdi“, was anfänglich ugf. dasselbe bedeutete wie „Ehre“. Doch spätestens mit dem Christentum hat Würde i.S. des lat. dignitas noch eine andere Bedeutung, welche womöglich die Pointe solcher „kontraphobischer Extraversionen“ ist – nämlich die un-veräusserliche Würde des Menschen, selbst als homo sacer (qua creatura Dei). Womöglich ist diese „Regression“ auch eine Revolte gegen den gegenwärtigen Zeitgeist, durch einen Rückgriff auf Sinnressourcen, der heute manchen geradezu als Atavismus erscheinen muss.