Sei du selbst?
Wir leben in einer Ära der Authentizität, meine Damen und Herren, wo «Sei du selbst» zur leitenden Maxime in sämtlichen Lebensbereichen avanciert zu sein scheint. Dahinter steht selbstverständlich die Idee, dass ein authentisches «Selbst» überhaupt existiere, im Sinne eines Apriori, eines faszinierenden, einzigartigen Wesenskerns, den es zu entdecken, freizulegen gelte, zum Beispiel durch Pilates oder Malen nach Zahlen. Diese spätmoderne Obsession mit dem Selbst erinnert bisweilen an die libidinöse Selbstliebe des kindlichen Ichs, und sie birgt Enttäuschungspotenzial: Was ist, wenn da nicht viel ist?
Die eine Möglichkeit wäre, dass die buddhistische Ansicht zuträfe, dass das Selbst eben, wie alles andere auch, über keinen fixen Kern verfüge, sondern im Flusse sei. Die andere Möglichkeit: Man entdeckt sein wahres Wesen – und ist desillusioniert. Es wäre ja denkbar, dass der tatsächliche Wesenskern sich einfach als nicht so interessant herausstellt, wie man das gerne hätte, also das persönliche Ich-Ideal unterbietet und damit nicht den Pfeilern der Selbststilisierung entspricht. Die Konformitätsnorm der Gegenwart ist der Individualismus, und so ist es für den Einzelnen peinlich und beschämend, wenn Leitbilder der eigenen Person, die wir in Interaktionen gewahrt oder bestätigt sehen möchten, nicht realisiert werden. Das dementiert die Identität, prätendiertes und aktuelles Ich geraten in Konflikt. Was dann? Am besten schnell weiterarbeiten, innen und aussen. So ungefähr lautete jedenfalls die Antwort in der protestantischen Tradition. Wobei anzumerken ist, dass die Vorstellung, dass es so was wie das unveränderliche wahre Selbst gäbe, also eine Art Muttergestein der Persönlichkeit, bestehend aus Überzeugungen und Fähigkeiten, natürlich dem inneren Wachstum nicht gerade dienlich ist.
Eine der letzten Zufluchten
Vielleicht hat diese spätmoderne Selbst-Metaphysik mit fehlender Verzauberung zu tun. Es ist keine neue These, dass die Natur als Objekt der Verzauberung mit der industriellen Revolution und dann schliesslich mit der Digitalen abgelöst wurde durch eine Ausrichtung auf das Innere. Das Ich und die Selbstfindung also als letzte Zuflucht. Oder eine der letzten. Manche Zeitgenossen fliehen vielleicht woanders hin, um verzaubert zu werden, zum Beispiel in die digitale Sphäre, deren hermetische Romantik sich Aussenstehenden verschliesst. Den Authentizitäts-Jüngern hingegen verschliesst sich eine ontologische Kondition: dass nämlich das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen und damit auch durch sie bildbar und verwundbar ist.
Wie also wäre es stattdessen mit etwas Selbsttranszendenz? Wäre doch gut, auch für den Diskurs. Denn, apropos Diskurs: Für die allermeisten von uns ist doch «Sei du selbst» tatsächlich eine fürchterliche Empfehlung. Denn was bedeutet Authentizität schliesslich in letzter Konsequenz? Jede Schranke zu schleifen zwischen dem, was man glaubt, und dem, was man sagt. Mit anderen Worten: Wenn wir alle authentisch wären, wird die Gesellschaft liquidiert.
13 Kommentare zu «Sei du selbst?»
Einverstanden, das inflationäre „authentisch“ nervt!
Dass jetzt aber ein Problem entstünde, weil plötzlich alle in die Tiefe gehen, glaube ich weniger.
Denn A****löcher reflektieren nicht.
Da werden vorher irgendwelche Parteien, Anschauungen, Leistungen, Biersorten verglichen oder HiFi – Nadeln für Plattenspieler. Und es werden irgendwelche Spielregeln aufgestellt, um wieder eine bequeme, überschaubare Hackordnung bzw. die Kirche im Dorf zu haben.
Nach der Lehre des Buddha entsteht und vergeht das „Selbst“ in jedem Moment neu, bedingt durch die wechselnde Wahrnehmung des Individuums und in Interaktion mit allen anderen Daseinsphänomenen, die auch bedingt entstanden sind. Um das zu erkennen ist es erstmal wichtig, das Selbst zu beobachten, zum Beispiel in der Meditation oder mit Achtsamkeit im Alltag. Es dauert lange bis man merkt, dass da kein feststehendes Selbst existiert. Der Aufforderung „Sei du selbst“ zu folgen, ist deswegen gar nicht so leicht. Man sollte es mal versuchen.
Authentizität als Bedrohung und als Verlust?
Äusserst seltsame Ansichten sind das.
Befremdlich.
Vielleicht wäre manch ein Mensch entspannter und glücklicher wenn er/sie einfach das sein dürfte und könnte was er/sie tatsächlich ist. Zu wissen, dass es genügt die/der zu sein die/der man tatsächlich ist. Und sich von da aus – von innen heraus – entfalten und entwickeln zu können. Dies Weltgesellschaft wäre vermutlich gesünder, mitfühlender und glücklicher.
Warum genau ist es eine ontologische Kondition, dass das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen ist? Und mit welchem Recht urteilt ein Mensch über den anderen? Um eventuell von eigenen Problemzonen abzulenken?
Ich bin Authentizität-Fan. Aber immer mit ehrlichem Respekt mir selbst und den anderen gegenüber. Fernab von Interpretation und Erwartung kann ich die Reaktion eines anderen eh nicht vorhersehen, lerne jedoch immer etwas über den anderen. Und mich selbst. Und ich bin überzeugt, dass da bei jedem sehr viel ist. Auch wenn oft noch etwas verborgen.
Interessante Gedankenanstösse. Für mich etwas gar pessimistisch, stellenweise sogar zynisch.
Solange es den Menschen in dieser Form gibt, wird er ein ewig Suchender sein. Sein ultimatives Ziel ist es, sich selbst zu finden und sich selbst zu sein. Auch wenn er es nicht wahrhaben will oder es bis an sein Lebensende nicht schafft…Denn die eigene Identität zu finden macht uns wahrhaft glücklich und stark. Und das ist keine Illusion.