Gegen das Dogma

Und für den Zweifel.

Zeigt in Bezug auf seine eigenen Aussagen Grösse: Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom, hier auf der Frankfurter Buchmesse 2016. Foto: Frank Rumpenhorst (EPA, Keystone)

Neulich sass ich mit dem Schriftsteller Cees Nooteboom auf der Bühne des Berner Stadttheaters, meine Damen und Herren. Wir sprachen im Rahmen der «Berner Reden» über westliche Werte und die vermeintlich post-westliche Welt, die nun mutmasslich anbricht. Und ich befragte Herrn Nooteboom nach einer Passage aus seinem Essay «Wie wird man Europäer?» von 1993, die wie folgt lautet: «Aus Europa kann sich niemand losreissen, ohne sich selbst zu verletzen, … und die Strukturen, die sich hier in den vergangenen vierzig Jahren, auch durch die Arbeit des Sich-Erinnerns, gebildet haben, können nicht so leicht ins Wanken gebracht werden.» Meine Frage dazu lautete: Gilt diese Aussage heute noch, wo wir quasi die Rückkehr des Territorialen und Nationalen in die Politik zu verzeichnen haben? Darauf Nooteboom: Nein. Das gelte heute nicht mehr.

Der Abstand zur eigenen Position

Das fand ich bemerkenswert und gut. Nicht dass die Strukturen Europas womöglich ins Wanken geraten sind, sondern dass ein gewichtiger Teilnehmer des öffentlichen Diskurses lapidar feststellt, dass die Welt eine andere sei und dass seine Position von früher nicht mehr gelte. Ich meine, wir alle stellen dauernd fest, dass die Welt sich ändere, aber die wenigsten sind bereit, ihren Standpunkt zu relativieren und zu revidieren, und sei er noch so obsolet. Der Zweifel ist aus der Mode, das Dogma ist gefragt, und zwar nicht nur von rechts, auch von links, zum Beispiel von Dogmatikern wie dem Soziologen Didier Eribon, der die Gesellschaft hartnäckig als eine Art Maschine versteht, die gemäss einer neomarxistischen Bedienungsanleitung soziale Schicksale produziert. Hier wird dem Zuhörer klar, wie wichtig Abstandsvermögen für die Qualität der Debatte ist. Besonders das Vermögen zum Abstand der eigenen Position gegenüber. Vielleicht schaffen das heutzutage nur noch Grandseigneure wie Cees Nooteboom.

Das Unvorstellbare ist geschehen

«Für mich gibt es nur eine Macht, die bewirkt, dass es sich zwischen unseren beiden unendlichen Abwesenheiten hier auf Erden aushalten lässt, und das ist die Macht der Phantasie.» Das ist ebenfalls von Nooteboom. Allerdings scheint die Phantasie inzwischen zu einer ambivalenten Entität geworden zu sein; wir reden von «Postfaktizität» und «Fake News» als Merkmalen der geistigen Situation der Zeit. Dabei scheint unsere Zeit neben dem Starrsinn doch vor allem durch eine Art Sprachlosigkeit gekennzeichnet zu sein, weil wir nämlich gar nicht mehr an jene Diskontinuitäten geglaubt haben, wie wir sie letztes Jahr erlebt haben. Derartige Zivilisationsbrüche und Transformationen waren nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern zum Beispiel auch in der Soziologie nicht mehr vorstellbar, wo es eben – bei aller Unterschiedlichkeit der Theorie – immer nur um die Reproduktion und graduelle Verschiebung der sozialen und politischen Ordnung ging; nicht um ihren Um- und Abbruch ins Unbekannte. Solcher Offenheit und Kontingenz aber begegnet man am besten mit: Zweifel. Nicht Dogmen. Dogmen haben noch nie funktioniert.

6 Kommentare zu «Gegen das Dogma»

  • Hans Hintermeier sagt:

    Einverstanden, es betrifft Linke & Rechte. Vor allem- sind Dogmatiker noch fähig phänomenologisch zu denken oder projizieren sie alles möglich auf Vertreter anderer Meinungen? Können sie noch richtig hinhören, was das Gegenüber wirklich sagt? Einen Diskurs überhaut noch zulassen? Auch Intellektuelle sind z.T. in Einseitigkeiten be/gefangen und müssen sich deshalb mindestens gut begründetete Kritik anhören können, wenn es denn ein Diskurs sein soll. Wer dies nicht kann, ist ein Dogmatiker, egal ob er links oder rechts steht.

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.