Ist Berlin aus der Mode?

Ein bisschen extravaganter als anderswo: Model an der Berlin Fashion Week 2017. Foto: Monika Skolimowska (Keystone)
Was ist Mode, meine Damen und Herren? Mode ist die Gesamtheit an Dingen, Äusserungen und Verhaltensweisen, die dem Zeitgeist gerecht werden. Der Zeitgeist aber ist ein schwer fassliches Phänomen. Versuchsweise könnte man sagen: Der Zeitgeist ist die Gesamtheit der kollektiven Urteile einer Gesellschaft in einem bestimmten geschichtlichen Moment. «Kollektiv» ist hier das entscheidende Wort. Auf der Seite des Einzelnen, des Individuums hingegen haben wir es nicht mit Mode zu tun, sondern mit Geschmack.
«Mode» und «Geschmack» werden häufig verwechselt. Mode aber bleibt die eine Sache, ein Angebot. Geschmack hingegen, also die talentierte Auslese des Einzelnen aus diesem Angebot, ist die andere Sache, und in der Tat sind die äusseren Freiheiten für diese Auslese heute grösser denn je. Vielleicht fallen deshalb so viele Menschen der Mode zum Opfer. Die Mode ist wohl die einzige Macht, deren Opfer ihr hinterherlaufen.
Ich vertrete ja in diesem Magazin hartnäckig die Auffassung, dass Geschmack nicht nur Urteilssinn, Gefühl für Harmonie und Selbsterkenntnis bedeutet, sondern auch ein Gespür für Angemessenheit. Insofern ist, zum Beispiel, eine Fashion Week in Berlin per se ein wenig geschmacklos. Denn sie ist dem Ort nicht angemessen. Ich liebe die Fashion Week, zum Beispiel in Mailand, jedenfalls für so ungefähr drei Tage – aber nach Berlin passt sie nicht. Passt nicht recht zu dem, was man den Ortsgeist nennt, mit seiner Räudigkeit und Ruppigkeit und auch seiner gelegentlichen Piefigkeit, die alle drei auch immer zu Berlin, meiner Geburtsstadt, gehört haben und das ausmachen, was man mit Recht als deren Charme bezeichnet.
Diese Unangemessenheit ist zunächst nicht schlimm, sorgt aber dafür, dass die sogenannte Berlin Fashion Week ständig schrumpft (von einer Woche kann keine Rede sein), während ihre angeblich wildere Schwester namens «Bread & Butter» zu einer Zalando-Verkaufsschau verkümmerte. Und nun hat auch noch Christiane Arp, Chefin der deutschen «Vogue», für Raunen gesorgt, indem sie bekannt gab, sie glaube nicht an den Berliner Stil (in der Tat glaubt Frau Arp, keine Metropole könne mehr einen identifizierbaren Stil für sich reklamieren; eine interessante, durchaus diskutable These).
Von «arm, aber sexy» zu Starbucks
Oder passt sie doch, die Fashion Week, zum neuen Berlin? Und ist vielleicht genau das ein Problem? So ungefähr sieht es der Berliner «Tagesspiegel», der soeben darauf hinwies, dass Berlin, als Destination längst selbst Gegenstand der Mode, bei Touristen nicht mehr so attraktiv sei wie auch schon. «Boomtown Berlin am Ende?», titelte der «Tagesspiegel», anfügend: «Die Hauptstadt leidet unter ihrer Normalität.» Und erklärt die sinkende Attraktivität Berlins für Besucher dadurch, dass eben das verschwinde, was Berlins Sog begründet habe: das Rohe, Raue, Billige. Der «Tagesspiegel» beklagt, seinerseits wenig originell, die «Starbuckisierung». Was aber ist die Einführung einer «Fashion Week» anderes als «Starbuckisierung»?
Auch und nicht zuletzt Berlin als Marke hat begriffen, dass die Mode heutzutage Teil einer Prominenzkultur ist, in der Bekanntheit vor Leistung rangiert. Deshalb ist Selbstinszenierung wichtig. Das Problem ist nur, dass Veranstaltungen wie die Fashion Week für eine Arm-aber-sexy-Inszenierung wenig taugen. Das Ruppige, Unfertige, Kreative waren wesentliche Kennzeichen Berlins. «Berlin hat keine Zeit», schrieb Egon Erwin Kisch bereits 1923, «keine Vergangenheit und keine Zukunft.» Aber diese Zeichen werden immer weniger kenntlich. Oder, mit anderen Worten: Man kann eben nur dann die Mode überschreiten, wenn man ihr nicht zum Opfer fällt.
4 Kommentare zu «Ist Berlin aus der Mode?»
mode ist eine schwache sollensordnung. wie kann man ihr zum opfer fallen? zizek deutet hegel so, dass vor dem entstehen einer sollensordnung, etwa des rechts, ein weder-noch bestehe, das durch die herrschaft des rechts „moralisch“ negiert werde. es folge der „amoralische“ schritt in einem höheren interesse, vgl. antigone. nur so kann der mensch m. e. opfer der mode werden. das ist anarchistisch und hegel verrückend. was ist die lösung? ich negiere das weder-noch und kann nicht zum opfer der – heute – in sich selbst gerechtfertigten sollensordnung, hier der mode, werden. der überstieg über die profane mode wird durch möglichkeiten bewegt. ich setze also in den anfang die sollensordnung, m. e. als mix aus auto- und heteronomie, und in die zukunft die potentiellen kreationen.
Und das um 7 Uhr morgens 🙂
„morgenstund ist aller laster anfang“, pflegt mein nachbar zu sagen. das gibt mir gelegenheit zu einer kleinen korrektur: das weder-noch nach zizek negiere ich nicht im sinne von hegel, sondern ich lehne es schlichtweg als falsch ab. auf zizek bin ich derzeit etwas sauer, weil er in der nzz vom letzten samstag der lgbt-community rassismus unterschob; die regenbogen-flagge wäre weisser, als viele dächten. woher hat er dies?
Avantgardistische Mode, die an sich den Anspruch erhebt, einzigartig und auch qualitativ herausragend zu sein, braucht als Nährboden eine gewisse kulturelle und soziale Substanz und zwar in kritischer Masse, um auch ökonomisch ein Bein auf den Boden zu kriegen. Das ist in Berlin einfach nicht vorhanden und war es im Grunde auch nie. Wo in jedem Bezirk Lässigkeit mit Schlampigkeit verwechselt wird und darüber hinaus die meisten Einwohner von der Hand in den Mund leben (müssen), hat man andere Sorgen. Und was das zitierte Ende von Berlin als Boomtown betrifft: Ich selbst habe Berlin mal sehr gemocht, aber eine Stadt, die mittlerweile an immer mehr Ecken völlig heruntergekommen, versifft und aufgegeben ist, kann sich definitiv nicht mehr als „sexy“ bezeichnen.