Sind Sie kreativ genug?
Kreativ sein sollen wir, meine Damen und Herren, wir alle haben das Gefühl, dass in uns allen ein Potenzial schlummert, das es nur richtig zu wecken gelte, vermittels der richtigen Atmosphären und Stimulanzien, die die Erlebnisgesellschaft, in der wir leben, quasi in allen Formen und Farben feilbietet. Kreativität ist zu einem Konsumartikel geworden, schreibt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich: «Mit Blick auf die letzten Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass das Kreativitätsdispositiv nicht nur grosse Ratgebermärkte hervorgebracht hat, sondern dass die Konsumkultur zur wohl intensivsten Inspirationskultur herangewachsen ist, die es jemals gegeben hat. Ganze Industriezweige bieten heutzutage kommodifizierte Inspiration, um Menschen in schöpferische Laune zu versetzen. Dabei können Produkte gar nicht alltäglich genug sein, um dennoch so Grosses und Kostbares wie die Ressource ‹Kreativität› zu versprechen.» Zum Beispiel Badeperlen, Parfüm, Tee, Küchengeräte. Alle mit inspirierender Wirkung, angeblich.
In der Tat: Das Kreativitätsdispositiv als Paradigma unkonventioneller, innovativer Problemlösung scheint in unseren Tagen zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell avanciert zu sein. Kreativität ist zum Imperativ geworden. Und zugleich – wie Fitness, Entspannung, Gesundheit – zu einem Leistungsversprechen der Konsumwelt. Kreativität wird vom selbstoptimierenden Subjekt der digitalen Spätmoderne als Ressource begriffen, als Mittel zum Zweck. Ullrich weist darauf hin, wie sehr dadurch, dass man in einem ökonomistischen Optimierungsdenken alles als «Ressource» betrachtet, schon das Mittelmass zum Defizitzustand erklärt werde: Kreativität war nie knapper als heute, da sie zur Norm geworden ist. So kann der Kreativitätsimperativ schnell überfordern. Das führt zu ganz neuen Defizitgefühlen, wenn da dann doch gar nichts schlummert; zu ungekannten Form der Entfremdungserfahrung: Menschen, konstatiert Ullrich, fühlen sich von ihrem wahren Selbst, ihrem Inneren, ihrer eigentlichen Bestimmung abgeschnitten, nur weil sie keine grandiosen Ideen haben und nicht immerzu etwas Originelles und Aufregendes produzieren. Kreativität im Dauermodus führt zu Ermüdung und Überdehnung.
Mutige Störenfriede gesucht
Das ist die eine Seite der Medaille. Aber wie sieht es nun eigentlich in jener Sparte aus, wo Kreativität tatsächlich seit je als Ressource betrachtet wird, also der Kunst im engeren Sinne? Gibt es noch eine künstlerische Avantgarde, die mutig voranschreitet und Konventionen bricht auf dem Weg zur Transzendenz, zu neuen Erkenntnissen über die oberen und unteren Bedingungen des Menschseins? Wenn wir feststellen, dass Badeperlen heutzutage Inspiration und Kreativität versprechen, ist dies ja auch als Indiz dafür aufzufassen, dass die Standards der Konsumkultur immer sophistizierter werden. Wie aber sieht es aus mit den Standards des Kulturkonsums? Und der Kulturproduktion? Es ist ja nicht nur so, dass Fiktionswerte (wie eine vermeintliche Inspirationswirkung) die zuvor über Gebrauchswerte definierte materielle Dingwelt erobern. Sondern parallel dazu (und möglicherweise nicht unabhängig davon) ist die umgekehrte Entwicklung festzustellen: dass die Kunst sich der Ware annähert.
Aber wenn nicht in der Kunst – wo ist denn dann die Avantgarde zu finden? Wo sind die mutigen, kreativen Störenfriede, neusprachlich «Disruptors» genannt? In Silicon Valley oder in der veganen Hipsterszene? In der Literatur? In der Finanzwelt, wo man jetzt die Krawatte abnimmt? Was die Hipster angeht, gewiss eine der aktuell kulturprägendsten Kohorten in der obigen Aufzählung, so finden wir hier vor allem eine Verbindung von Nostalgie mit einem obsessiven Studium vermeintlicher sozialer Formen und einer Phobie vor dem, was er (oder sie) für «Mainstream» hält. Die permanente, pseudo-ironische Umcodierung ist das Symptom spätmodernen Geltungskonsums.
Zeitgenössische Oberflächenkunst
In der ästhetizistischen Hipsterironie ist die Binarität von Oberfläche und Essenz aufgehoben. Alles ist immanent – und damit irgendwie nichts. Damit entspricht die Hipsterironie genau dem, was man an der zeitgenössischen Oberflächenkunst kritisieren kann. Oder am letzten Roman von Christian Kracht, der den Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Mut würde hier dazugehören, statt der endlosen Spiegelung tatsächlich wieder Gegenwelten, Jenseitigkeiten, ein Aussen zu eröffnen. Mut zur «Disruption», als Aktualisierung von Joseph Schumpeters «schöpferischer Zerstörung», mit der unproduktive Ressourcen zu einer schöpferischen Verwendung umgewidmet werden. Denn was ist der Kulturstand der Gesellschaft, ökonomisch betrachtet? Ein öffentliches Gut. Und dieses Gut profitiert von der paradigmatischen Störung, die die Vorstellungswelten, also den imaginären Haushalt der Gesellschaft durcheinanderbringt. Das inspiriert mehr als Badeperlen.
9 Kommentare zu «Sind Sie kreativ genug?»
Wenn ich nicht gelesen habe, dass das ein Strassenkünstler ist, hätte ich gedacht das ist ein Kundenberater in einem Laden wo ich vor kurzem etwas fragen musste, eines Unternehmes das mittlerweile an der Börse kotiert ist. Hier auf dem Bild einfach nur noch angemalt.
Diesen Text möchte ich mit dem neuen SP-Parteiprogramm vergleichen. Nur für Akademiker verständlich, somit also eine Minderheit der Leser.
Ach, Herr Tingler, ich will es mal so sagen. Wuerde ich das Handwerk des Schreibens beherrschen, braeuchte ich weniger Kreativitaet. Das Ziel waere die Perfektion. Ist eigentlich wie beim Brunsliteig. Wenn er gekauft wird, tue ich das Meine mittels Kreativitaet dazu. Stelle ich ihn selbst her, dann reicht eine einfache Form. Dieses Jahr sind es kreisrunde Scheiben.
Zum Thema: Was lese ich doch gestern auf einer Plakatwand? «Entdecken Sie Ihre Kaffee-Kreativität!» Fehlt nur noch der Borstenbinder, der mich auffordert, meine Klobürsten-Kreativität zu wecken…
Ich würde sagen, lieber Herr Tingler, heute haben sie mal ein paar Badeperlen mit leichter Hand vor die Säue geworfen !