Sind Sie kreativ genug?

Über Hipster und Künstler und Badeperlen voller Inspiration.
Mut zur «Disruption» ist gefragt: Spiderman-Strassenkünstler in Berlin. Foto: Ravvo11 (Flickr)

Mut zur «Disruption» ist gefragt: Spiderman-Strassenkünstler in Berlin. Foto: Ravvo11 (Flickr)

Kreativ sein sollen wir, meine Damen und Herren, wir alle haben das Gefühl, dass in uns allen ein Potenzial schlummert, das es nur richtig zu wecken gelte, vermittels der richtigen Atmosphären und Stimulanzien, die die Erlebnisgesellschaft, in der wir leben, quasi in allen Formen und Farben feilbietet. Kreativität ist zu einem Konsumartikel geworden, schreibt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich: «Mit Blick auf die letzten Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass das Kreativitätsdispositiv nicht nur grosse Ratgebermärkte hervorgebracht hat, sondern dass die Konsumkultur zur wohl intensivsten Inspirationskultur herangewachsen ist, die es jemals gegeben hat. Ganze Industriezweige bieten heutzutage kommodifizierte Inspiration, um Menschen in schöpferische Laune zu versetzen. Dabei können Produkte gar nicht alltäglich genug sein, um dennoch so Grosses und Kostbares wie die Ressource ‹Kreativität› zu versprechen.» Zum Beispiel Badeperlen, Parfüm, Tee, Küchengeräte. Alle mit inspirierender Wirkung, angeblich.

In der Tat: Das Kreativitätsdispositiv als Paradigma unkonventioneller, innovativer Problemlösung scheint in unseren Tagen zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell avanciert zu sein. Kreativität ist zum Imperativ geworden. Und zugleich – wie Fitness, Entspannung, Gesundheit – zu einem Leistungsversprechen der Konsumwelt. Kreativität wird vom selbstoptimierenden Subjekt der digitalen Spätmoderne als Ressource begriffen, als Mittel zum Zweck. Ullrich weist darauf hin, wie sehr dadurch, dass man in einem ökonomistischen Optimierungsdenken alles als «Ressource» betrachtet, schon das Mittelmass zum Defizitzustand erklärt werde: Kreativität war nie knapper als heute, da sie zur Norm geworden ist. So kann der Kreativitätsimperativ schnell überfordern. Das führt zu ganz neuen Defizitgefühlen, wenn da dann doch gar nichts schlummert; zu ungekannten Form der Entfremdungserfahrung: Menschen, konstatiert Ullrich, fühlen sich von ihrem wahren Selbst, ihrem Inneren, ihrer eigentlichen Bestimmung abgeschnitten, nur weil sie keine grandiosen Ideen haben und nicht immerzu etwas Originelles und Aufregendes produzieren. Kreativität im Dauermodus führt zu Ermüdung und Überdehnung.

Mutige Störenfriede gesucht

Das ist die eine Seite der Medaille. Aber wie sieht es nun eigentlich in jener Sparte aus, wo Kreativität tatsächlich seit je als Ressource betrachtet wird, also der Kunst im engeren Sinne? Gibt es noch eine künstlerische Avantgarde, die mutig voranschreitet und Konventionen bricht auf dem Weg zur Transzendenz, zu neuen Erkenntnissen über die oberen und unteren Bedingungen des Menschseins? Wenn wir feststellen, dass Badeperlen heutzutage Inspiration und Kreativität versprechen, ist dies ja auch als Indiz dafür aufzufassen, dass die Standards der Konsumkultur immer sophistizierter werden. Wie aber sieht es aus mit den Standards des Kulturkonsums? Und der Kulturproduktion? Es ist ja nicht nur so, dass Fiktionswerte (wie eine vermeintliche Inspirationswirkung) die zuvor über Gebrauchswerte definierte materielle Dingwelt erobern. Sondern parallel dazu (und möglicherweise nicht unabhängig davon) ist die umgekehrte Entwicklung festzustellen: dass die Kunst sich der Ware annähert.

Aber wenn nicht in der Kunst – wo ist denn dann die Avantgarde zu finden? Wo sind die mutigen, kreativen Störenfriede, neusprachlich «Disruptors» genannt? In Silicon Valley oder in der veganen Hipsterszene? In der Literatur? In der Finanzwelt, wo man jetzt die Krawatte abnimmt? Was die Hipster angeht, gewiss eine der aktuell kulturprägendsten Kohorten in der obigen Aufzählung, so finden wir hier vor allem eine Verbindung von Nostalgie mit einem obsessiven Studium vermeintlicher sozialer Formen und einer Phobie vor dem, was er (oder sie) für «Mainstream» hält. Die permanente, pseudo-ironische Umcodierung ist das Symptom spätmodernen Geltungskonsums.

Zeitgenössische Oberflächenkunst

In der ästhetizistischen Hipsterironie ist die Binarität von Oberfläche und Essenz aufgehoben. Alles ist immanent – und damit irgendwie nichts. Damit entspricht die Hipsterironie genau dem, was man an der zeitgenössischen Oberflächenkunst kritisieren kann. Oder am letzten Roman von Christian Kracht, der den Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Mut würde hier dazugehören, statt der endlosen Spiegelung tatsächlich wieder Gegenwelten, Jenseitigkeiten, ein Aussen zu eröffnen. Mut zur «Disruption», als Aktualisierung von Joseph Schumpeters «schöpferischer Zerstörung», mit der unproduktive Ressourcen zu einer schöpferischen Verwendung umgewidmet werden. Denn was ist der Kulturstand der Gesellschaft, ökonomisch betrachtet? Ein öffentliches Gut. Und dieses Gut profitiert von der paradigmatischen Störung, die die Vorstellungswelten, also den imaginären Haushalt der Gesellschaft durcheinanderbringt. Das inspiriert mehr als Badeperlen.

9 Kommentare zu «Sind Sie kreativ genug?»

  • LiFe sagt:

    Als ich eines Tages bemerkt hatte, dass mir wenig Zeit, vermaledeit wenig Zeit für die Muse blieb, da begann ich kreativ zu werden……ich gebe zu, mit der Umsetzung hapert es noch, aber Ideen und Kreativität stärken das Rückgrat.

  • Duttweilerschöpft sagt:

    Sie hüllten sich in seltsame Gewänder und irrten mit dem Smartphone ziellos umher…

  • Meinrad sagt:

    Schumpeters „schöpferischer Zerstörung“ irritiert. Eine blosse Umwidmung beinhaltet keine Zerstörung. Vielleicht ist damit gemeint, dass die ausgelatschten Trampelpfade der zeitgenössischen Künstler zerstört werden sollen. Ein Beispiel ist die architektonische Kunst von Wohnhäusern etwa in Wollerau, Pfäffikon (SZ) oder auch Teufen (AR), sind diese betonierten Schuhschachteln mit dunklen Gefängnisfenstern, einfach ohne Gitter.

    Sind die Pfade einmal zerstört, blickt uns zwar die Zukunft (lateinisch futurum) an, aber die zukünftige Kunst wird immer eine solche bleiben. Die Künstler sollen vielmehr völlig Neues wagen und damit für dessen Ankunft (lateinisch adventus) sorgen, die sich zwar wiederholen mag, aber jeweilen transzendente Punkte kreiert und eben – ankommen lässt.

  • Meinrad sagt:

    An Krachts letztem Roman hat mich so übelgelaunt gemacht, weil er darin Chaplin und Rühmann auftauchen liess, also reale Figuren in einem Roman, bei welchem für gewöhnlich jede Person, jeder Ort, jede Stimmung eine ganz bestimmte Vorstellung in mir hervorruft, die mich durch die ganze Lektüre trägt und sich ins Gedächtnis einprägt. Die Fiktion fülle ich mit eigenen Bildern ab, was mit ein Grund ist, überhaupt einen Roman zu lesen. Und da brechen urplötzlich Figuranten – nein, eben keine Figuranten – in die Erzählung ein, von denen ich nicht nur schon eine Vorstellung habe, sondern von denen ich auch reale Bilder (private oder als Schauspieler) kenne. Von mir aus mag das ein Kunstgriff sein. Bei mir war der Zauber weg.

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