Selfies verboten

Grenzen der Selbstdarstellung.


Illegale Selbstdarstellung: Trotz Tennessees Wahl-Selfie-Verbot wurde Justin Timberlake nicht angeklagt. Schlimmstenfalls hätten ihm bis zu 30 Tage Gefängnis gedroht.

Die Wahlen in den Vereinigten Staaten sind vorbei, meine Damen und Herren, und Etliches ist mutmasslich verloren gegangen, aber, immerhin, ganz unabhängig vom Wahlausgang zeigt sich ein kultureller Gewinn: das Selfie-Verbot. Ganz recht: Ein Selfie mit dem ausgefüllten Wahlzettel zu machen, ist in 15 Bundesstaaten der USA, zum Beispiel in New York, illegal – und strafbewehrt mit einer Busse oder sogar Gefängnis. Die Idee dahinter ist, einen Anreiz zum Stimmenkauf zu verhindern: Personen, die sich für eine bestimmte Stimmabgabe bezahlen lassen, können nämlich mit dem Stimmzettel-Selfie demonstrieren, dass sie ihren Teil des Deals erfüllt haben. Ausserdem gibt es ja ganz grundsätzlich im demokratischen Rechtsstaat noch so was wie das Prinzip der geheimen Wahl, und darüber hinaus liesse sich auf einer allgemein-moralischen Ebene für ein Selfie-Verbot auch noch ein Grund einführen, der in unserer spätmodernen Kultur der Sichtbarkeit augenscheinlich in Vergessenheit gerät, nämlich das, was der Amerikaner «common decency» nennt: jenen Anstand, den man von jedem leidlich zivilisierten Menschen erwarten darf. Ein Selfie ist seinem Wesen nach eine Selbstdarstellung und deshalb immer dann tabu, wenn der Kontext Pietät erfordert. Sie erinnern sich an Pietät? Das ist diese alte Haltung von Takt, Respekt und Ehrfurcht.

Hier kommen noch ein paar Anregungen für Selfie-Verbote:

  1. Beim Besuch von Heiligtümern oder Grabanlagen. Das sind keine Sight-Seeing-Attraktionen, sondern: Orte der Kontemplation und des Gedenkens.

  2. Sobald Menschen mit aufs Bild geraten könnten, die das in ihrem Schamgefühl oder Persönlichkeitsrecht verletzen würde. Zum Beispiel beim Training. Oder im Umkleideraum.

  3. Beim Arzt. Vor allem beim plastischen Chirurgen.

  4. Mit Flugzeugentführern.

  5. Beim Besuch von Mahnmalen und Gedenkstätten. Wenig Phänomene zeigen Zivilisationsverlust so deutlich wie: Tindercaust.

3 Kommentare zu «Selfies verboten»

  • Karl-Heinz Failenschmid sagt:

    Ich bin voll auf ihrer Seite. Ich würde noch weiter gehen: ein Selfie mit einem Straftäter macht zum Komplizen. Für Schäden eines mit aufgenommenen Fremden muß gehaftet werden.

  • Meinrad sagt:

    Zur zweiten vorgeschichtlichen Epoche in Bezug auf die Frage nach der Herkunft der Geltung schrieb Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgenen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ Erst in der folgenden dritten Epoche traten die Götter und dann Gott hervor. Das ist vielleicht etwas weit hergeholt, aber es beschleicht einen das unheimliche Gefühl, bestimmte Leute würden in eine vorgeschichtliche Zeit zurückfallen, die noch älter ist als jene der Pietätsforderung, sondern vielmehr eine der Überreizung der Angstfähigkeit oder des Entsetzens. Wolfram Hogrebe nennt diesen Zustand in der zweiten Epoche „nicht mehr instinktgeschützt“ und „mithin proto-schizoid“ (Philosophischer Surrealismus, Berlin 2014, S. 39 ff.).

  • Henry sagt:

    Ach ja, die meisten Leute sind nunmal sterbenslangweilig und uninteressant. So sind nun mal die Zeiten. Da hilft auch kein digitales Selbstbildnis. Gut, wenn sich die Person neben dem Grabmal von Marie Duplessis auf dem Cimetière de Montmartre ablichtet sieht die Sache anders aus. Dort traf ich weiland eine entzückende junge Dame, die von überhaupt nichts eine Ahnung hatte. Das sind die interessantesten Menschen. Und natürlich die, die alles wissen. Beide Vertreter ihrer Gattung sind bedauerlicherweise äußerst selten anzutreffen.

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