Sind Schweizer zwanghaft?

Ein Angestellter des Vereins Berner Wanderwege putzt einen Wegweiser. Was sagt das über unser Land? Foto: Alessandro Della Bella (Keystone)
Es ist interessant, meine Damen und Herren, einmal die Länder der Welt danach zu betrachten, ob sie, aus welchen Gründen auch immer, für ein wenig peinlich gelten oder nicht. Kanadier zum Beispiel wollen nicht für US-Amerikaner gehalten werden (und umgekehrt), Belgier nicht für Franzosen oder Niederländer, und Niederländer nicht für Deutsche (wie eigentlich der gesamte Rest der Welt). Hingegen gibt es offenbar wenig Menschen, denen es peinlich wäre, für Schweizer gehalten zu werden (ausser vielleicht Schweizern, wenn sie im Ausland auf andere Schweizer treffen, die ihnen peinlich sind). Trotzdem ist die Schweiz für so ein kleines Land eine ziemlich markante Marke, würde man heutzutage sagen, und damit einher gehen markante Zuschreibungen. Nationale Stereotype können negativ sein («Russen sind chauvinistisch») oder positiv («Brasilianer sind feurig und lebenslustig»); im Falle der Schweiz sind sie, passenderweise, irgendwie neutral, so eher sekundärtugendmässig, namentlich: Das Land ist pünktlich und sauber.
Nun ist, egal wie das Stereotyp ausfällt, offenbar für die menschliche Psyche wenig so befriedigend, wie wenn jemand, sei es ein Mensch oder ein Land, sein Klischee komplett ausfüllt, gerne bis in die Abzweigungen der Peinlichkeit. So gefällt es den Leuten, offenbar, und dieses Gefallen war wohl nicht zuletzt die Motivation für einen Beitrag, der unlängst auf der Website der BBC erschien unter dem Titel: «The Nation That Hates to Be Late». Dreimal dürfen Sie raten, welche Nation hier gemeint war. Genau.
Der Autor beginnt gleich einleitend mit der begründungsfreien Feststellung: «Obschon viele Länder mit Stereotypen belastet sind: Im Falle der Schweiz stimmen sie genau.» Und schliesst an: «Die Alpennation ist in der Tat hocheffizient. Und minutiös pünktlich. Sauber, ausserdem.» Okay, das können wir uns noch gefallen lassen. Ist ja auch alles ziemlich wahr. Man muss nur einmal zum Beispiel über die Grenze nach Deutschland gucken, dieses vielfach überforderte Land, das immer noch vom Ruf früherer Effizienz zehrt, um zu wissen, dass es stimmt. Es stimmt auch, was der Autor über die spezielle Mischung von Gefühlen schreibt, die diese helvetischen Qualitäten beim ausländischen Besucher hervorrufen: Ehrfurcht, Entlastung und eine Spur Irritation.
Dann aber wirds problematisch. Denn es geht (nach einigen Privatanekdoten und Expat-Erfahrungen) wie folgt weiter: Für die Schweizer sei Pünktlichkeit und Effizienz nicht nur eine Frage von Genauigkeit und Manierlichkeit, sondern eine Quelle tiefen Behagens und wahrer Freude. Anscheinend hätten sich die Eidgenossen der schopenhauerschen Definition von Glücklichsein als der «Abwesenheit von Leid» verschrieben. Auch von Zwanghaftigkeit ist die Rede. Und von den Schattenseiten der Ordnungsfixierung: Herdenverhalten. Rigide Waschküchenpläne. Geringe Frustrationstoleranz. Enttäuschte Erwartungen. Die hatte man freilich auch nach Lektüre dieses Artikels auf der BBC-Website. Ich liebe mein Land nicht blind, aber die Schweiz ist mehr als Waschküchenpläne und Herdenverhalten. Und damit beende ich meine Ansprache zum 1. August, heuer ganz unschweizerisch leicht verspätet.
28 Kommentare zu «Sind Schweizer zwanghaft?»
….und ich entdecke gerade Carl Spitteler! Fantastisch!
„…Deutschland…dieses vielfach überforderte Land, das immer noch vom Ruf früherer Effizienz zählt…“ Lieber Herr Tinlger, eigentlich heisst es nicht zählt, aber egal. Da will ich mal nicht die „pedante Deutsche“ sein ;). Ich finde Sie erfüllen in Ihrem Artikel das Klischee im Verhältnis zu Deutschland wunderbar. Dem ist doch nichts hinzuzufügen.
Sind wir Schweizer wirklich so schwach, dass wir uns immer wieder durch peinliches Herabsetzen unserer Nachbarn erhöhen müssen? Sicher nicht. Warum findet es dann in unseren Medien immer wieder statt? Und warum ist Deutschland und seine Bewohner dabei das Lieblingsziel von uns? Herr Tingler, Sie können uns diese Frage ja beantworten. Was hat Sie dazu gebracht dies in Ihrem Blog zu tun? Freue mich auf Ihre Antwort.
Es gibt doch garnicht d i e schweizer oder d i e deutschen,wer so denkt,hat einen
schraubstock im hirn.Jedes unserer länder begegnet vielfältigen mentalitäten
zwischen norden und süden,zwischen osten und westen ! Ich finde diese viel=
falt spannend wenn man gleichzeitig auch das gemeinsame bereit ist zu er=
kennen.
Verbohrte gibt es allernorts genauso wie kreative,die dem gegenüber
ohne vorurteil begegnen.Klischees befördern unnötiges misstrauen,giessen
vielleicht sogar öl in ein kleines feuer,das dann manchmal sogar zu einer ex=
plosion führen kann.
Ich bin kein „gutmensch“,manche leute sind mir sympathischer als andere,
egal ob schweizer,deutscher oder eine andere nation,mich mag auch nicht
jeder und das ist OK !!!