Stress im Grossraumbüro

Ich lese, wie Sie wissen (oder auch nicht), meine Damen und Herren, viel, sehr viel. Dennoch passiert selten, was mir neulich passierte: Ich bin mit dem iPad ins Bett gegangen, weil ich nicht aufhören konnte, ein gewisses Buch zu lesen. Und dieses Buch war «Das Zimmer» von Jonas Karlsson.
«Das Zimmer» weist alle Merkmale guter, grosser Literatur auf. Eines davon ist regelmässig, dass man den reinen Inhalt in ungefähr zwei Sätzen wiedergeben kann: Björn, der Ich-Erzähler, leidet bei der Arbeit. Er findet seine Arbeitskollegen unerträglich, fühlt sich von seinem Vorgesetzten unverstanden, und all das beeinträchtigt ihn in seinen Plänen, die Karriereleiter emporzusteigen in jener gesichtslosen Bürokratie, in der er sein Geld verdient. Diese Behörde, für die Björn arbeitet, bleibt namenlos und ungreifbar und unfreundlich und uninteressant. In ihr entstehen irgendwelche Rahmenbeschlüsse, über deren Inhalt nichts bekannt wird. Doch eines Tages ändert sich alles, als Björn ein kleines, verstecktes Zimmer entdeckt, zwischen dem Aufzug und den Waschräumen, ein Refugium, wohin er sich zurückziehen kann und zu Ruhe, Konzentration und Produktivität findet. Und da beginnt der Strudel, der Strudel, in den der Leser gerät, ein Strudel der Ereignisse und der Behauptungen dieses nur scheinbar sachlichen, tatsächlich aber hochgradig unzuverlässigen Ich-Erzählers namens Björn. Am Ende wissen wir nicht mehr, was wahr und was falsch und wer hier eigentlich irre ist, wir wissen nicht, ob dieses Zimmer überhaupt existiert oder nicht (wie alle sagen ausser Björn). Wir wissen ebenfalls gar nicht mehr, was das für ein Buch ist, das wir hier vor uns haben: eine Satire, eine Komödie, eine Tragödie, eine Groteske über die spätmoderne Arbeitswelt, Künstler-Parabel, Gesellschaftskritik, Büroroman, Thriller?
Das Geniale der Ambivalenz prägt dieses kleine, grosse, überaus kunstvolle Buch. «Das Zimmer» ist grotesk und rasant und von schillernder, bisweilen surrealer Mehrdeutigkeit: ein Juwel. Es verfügt, obwohl im klassischen Sinn kaum etwas passiert und das Buch auf nichts Bezug nimmt, was über den Handlungsrahmen hinausweist, über eine unerhörte Dramaturgie und Dramatik. Eine der Leistungen des Buches bzw. seines Autors, des schwedischen Schauspielers Jonas Karlsson, besteht darin, dass wir uns quasi wider Willen mit dem Protagonisten identifizieren – und dieser Björn ist wirklich kein Sympath. Er ist vielmehr egozentrisch, pedantisch, uncharmant. Nicht gerade die Person, die man neben sich am Schreibtisch will; vielmehr diese irritierende Art von Persönlichkeit, die jeder kennt, der schon mal mit organisierten Strukturen zu tun hatte. Und trotzdem suggeriert Karlsson mit gerade fieser Unterschwelligkeit die Frage: Sind wir nicht alle ein bisschen wie Björn? Fühlen wir uns unseren Mitgeschöpfen nicht manchmal grundsätzlich überlegen? Und sei es nur als Rationalisierung, weil wir möglicherweise das Gefühl haben, nicht dazuzugehören? Und fallen uns manchmal nicht kleinste Eigenheiten auf die Nerven, das Cordsakko des Kollegen oder der Umstand, dass die Papierstapel auf seinem Schreibtisch immer mehr in meine Richtung rutschen? Denken Sie mal drüber nach. Und lesen Sie «Das Zimmer».
Im Bild oben: Sympathisch ist anders – James McAvoy in «Drecksau». (Ascot Elite Filmverleih)
7 Kommentare zu «Stress im Grossraumbüro»
„Ich bin mit dem iPad ins Bett gegangen, weil ich nicht aufhören konnte, ein gewisses Buch zu lesen.“
Da frage ich mich, was mit dem gewissen Buch passiert ist, wenn er doch nicht aufhören konnte ein BUCH zu lesen.
Einen Roman, oder eine Kurzgeschichte auf dem iPad zu lesen ist nicht gleich ein Buch zu lesen, denn ein iPad ist doch nicht ein Buch 😉
Ein E-Buch ist sehr wohl ein Buch, denn der Begriff „Buch“ bezeichnet sowohl ein grösseres, gebundenes Druckwerk als auch ganz allgemein einen in „Buchform“ veröffentlichten Text.
Man könnte es auch so formulieren: Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch ist ein Buch.
….und Grippe für alle!
Nicht das Zimmer, das Refugium, ist das Zimmer, sondern die ganze Welt rund um das angebliche Zimmer herum ist das Zimmer, der Salon. Im Salon bewegen sich die Mitglieder der Gesellschaft, die, ohne dass sie jede Schuld trifft, Anreize beim Protagonisten auslösen, welche diesem Schaden zufügen. Es ist Björn zwar freigestellt, in den Salon bei offenen Türen hineinzuschauen oder den Salon sogar zu betreten. Aber die Gefahr, die von den genannten Anreizen ausgeht, ist sehr gross. Da Björn in seinem Refugium alleine ist, hält ihn auch niemand zurück, der Versuchung zu erliegen, in den Salon zu gehen, sich unter die Leute zu mischen und auf die Anreize, die auf ihn so einwirken, wie es niemand nachvollziehen kann, aus Sicht der Gesellschaft unangemessen zu reagieren.
Ganz so wie im richtigen Leben. Scheinbar weniger dramatisch. Aber nur scheinbar…….
Lieber Herr Tingler
Sie haben mir mit Ihren Beiträgen schon so manch interessante und amüsante Minute verschafft. Und manchmal lernt man von Ihren Kolumnen auch etwas fürs Leben (Adiletten SIND ok). Ihr Buchtipp zu „Das Zimmer“ hat bei mir allerdings eine regelrechte Epiphanie ausgelöst und mir somit das Leben im Büro erträglich gemacht. Das Zimmer ist für mich ein beliebiges Projekt, eine beliebige Idee in einer beliebigen Bürokratie. Die sozialen Strukturen und die starren Hierarchien führen dazu, dass „das Zimmer“ unsichtbar bleibt. Als jemand, der gelegentlich einen solchen Raum entdeckt, kann man bloss lernen zu akzeptieren, dass er in der Bürowelt keine Existenzberechtigung hat.
Vielen Dank!
Immer gern 🙂