Sind Kalorien böse?
Blog Mag mit neuer Kolumne «Konsumkultur» sowie frischem Design
Geschätzte Leserinnen und Leser, Philipp Tingler schreibt neu immer freitags die Kolumne «Konsumkultur». Der Konsumbegriff ist hierbei weit gefasst. Er bezieht sich nicht nur auf Objekte, sondern auch auf Dienstleistungen, Medien, Reisen oder Zwischenmenschliches wie etwa den Online-Liebesmarkt. Doch nicht nur die «Konsumkultur» ist im Blog Mag neu, sondern auch das übersichtliche und frische Design. Wir wünschen Ihnen damit ein noch besseres Lesevergnügen! – Die Redaktion.
Die Beziehung zwischen Konsum und Moral, meine Damen und Herren, hat heute, wie so vieles, mindestens zwei Seiten. Einerseits geht es hier um den sogenannten ethischen Konsum, wo der souveräne Konsument bei seiner Verbrauchsentscheidung zum Beispiel Fragen nach der Produktlebensgeschichte und Nachhaltigkeit miteinbezieht. Und andererseits? Andererseits wird vieles, was man früher selbstverständlich (um nicht zu sagen: bedenkenlos) konsumierte, heute einer moralischen Bewertung unterzogen. Fett und Zucker, zum Beispiel.
Wohlgemerkt: Nicht von einer gesundheitspolitischen Bewertung (also: «Es ist ungesund, Fett zu konsumieren») ist hier die Rede, sondern von einem moralischen Urteil (also: «Es ist verwerflich, Fett zu konsumieren»). Der Konsum von, sagen wir, Kartoffelchips gilt heute in manchen Kreisen als nicht mehr tolerierbare Devianz – und in anderen Kreisen als genussvolles Trotzdem-Erlebnis. Moralfrei ist er in beiden Fällen nicht mehr.
Kalorienwerte auf der Speisekarte
Und wie geht die Konsumgesellschaft damit um? Geleitet von der spätmodernen Idee, das gelingende Leben zu operationalisieren, indem man das Schicksal durch Sicherheit suspendiert, werden alle Eventualitäten scheinbar ausgeschlossen vermittels der apriorischen Diskursivierung derselben. Auf Deutsch: Man redet über alles, damit ja nichts passieren kann. Deshalb werden etwa bei Starbucks und anderen Restaurantketten in den USA die Kalorienwerte auf die Speisekarte gesetzt.
Das ist praktisch hilfreich, aber philosophisch belanglos. Der sogenannte naturalistische Fehlschluss besagt nämlich, dass man aus deskriptiven Aussagen (also aus einem Sein) nicht in sinnvoller Weise auf normative (also auf ein Sollen) schliessen kann. Wie beispielsweise in dem Satz: «Kartoffelchips sind hochkalorisch, also sollst du keine Kartoffelchips essen.»
So viel zur Konsumentensouveränität. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich muss zu meinen Eggs Benedict. Eintausend Kalorien.
12 Kommentare zu «Sind Kalorien böse?»
Das genussvolle Trotzdem-Erlebnis bedingt, dass dem Geniessenden die Ansicht Anderer, dass das Erlebnis verwerflich sei, auch bewusst ist. Nur dann können etwa gesundheitlich oder nachhaltigkeitsbezogen motivierte Vorwürfe der Anderen eine Trotz-Reaktion auslösen. Diese Reaktion ist indes nicht mehr sicherheitsorientiert und widerspricht der spätmodernen Idee vom gelingenden Leben. Das Zeitliche ist in dieser Idee aber nicht vollständig enthalten: Rauche ich Zigaretten, so ist dies der Idee nach lebensgefährdend, aber das jetzige und künftige Leben kann trotzdem gelingen; es sind nur einige Microlife-Punkte in Abzug zu bringen. Dann gibt es noch jene, die sich des „Trotzdems“ gar nicht bewusst sind. Auch ihnen kann das Leben gelingen – ohne jede Hysterie. Media vita in morte sumus.
ja was soll denn dies debattieren? 🙂 mit den kalorien ist das wie mit dem alter. je zunehmender desto weniger spielt dems eine rolle. ergo bibamus!
Care Philippe, ergo bibamus, fumemus et scribamus pro vita succedente! 🙂
Es ist kein (echter) Sein-Sollens-Fehlschluss, wenn es eine implizite oder „unterdrückte“ evaluative oder normative Prämisse gibt, die im jeweiligen Kontext als „gegeben“ bzw. als „common knowledge“ betrachtet werden kann (ob diese Prämisse dann tatsächlich mit guten Gründen verteidigbar ist, ist dann eine ganz andere Frage!). In dem von Ihnen genannten Beispiel entweder „Es ist nicht gut, hochkalorische Nahrungsmittel zu sich zu nehmen“ oder „Man soll keine hochkalorischen Nahrungsmittel zu sich nehmen“, oder Ähnliches. Also philosophisch dann doch wieder interessant, weil wir uns fragen können (bzw. sollten), warum wir diese evaluativen/normativen Prämissen ethisch oder prudentiell anerkennen sollten – oder eben gerade nicht!
Werter Herr Mertz, Herr Tingler spricht von einem moralischen Urteil. Übermässiger Genuss von Kartoffelchips ist ungesund. Daraus kann man meines Erachtens keine sittliche Forderung ableiten, auf den übermässigen Genuss zu verzichten. Vielmehr ist der Betroffene aus Motiven der Klugheit vielleicht gewillt, vom Konsum abzusehen. Die moralische Motivation und die Motivation durch Einsicht – Sie schreiben „prudentiell“ – ist doch etwas Anderes. (Das ist nicht von mir, sondern von Bernard Williams.) Dieser Unterschied an sich ist vielleicht eine Frage der Philosophie. Aber Konsum ungesunder Güter kann nicht moralisch als verboten (oder in einer Trotzreaktion als geboten) gelten, nur weil die Güter ungesund sind. Ein zwingendes „naturgemässes“ Gebot/Verbot ergibt sich ohnehin nicht.
Werter Hr. Eos, ich habe mich hauptsächlich auf die Behauptung von Hr. Tingler bezogen, es läge ein Sein-Sollens-Fehlschluss vor (was m.E. eben nicht zwingend ist). Ein solcher kann generell bei Schlüssen von deskriptiven Prämissen auf normative Konklusionen vorkommen, gleichgültig, welcher Art die Normativität ist – es muss nicht moralische Normativität sein. „Prudentiell“ meint genau „auf Klugheitserwägungen bezogen“, und ich habe offen gelassen, ob es sich um das eine oder andere handelt (eben: es könnte sich auch nur um Klugheitserwägungen handeln). Als moralisches Gebot/Verbot wäre es aber in einem „Public Health“-Kontext denkbar (ich sage nicht: zwingend der Fall!). Von „naturgemäßen“ Geboten/Verboten habe ich nichts geschrieben und auch nichts implizieren wollen.
Werter Herr Mertz (9. Juli 2016 um 10:33), offenbar ist der Sein-Sollens-Fehlschluss weder zwingend ein naturalistischer Fehlschluss noch zwingend ein moralistischer Fehlschluss, wie ich bei meiner ungeliebten Tante Wiki nachlesen kann. Dessen war ich mir nicht bewusst. Ich dachte immer, dass sei alles ein und dasselbe. Bitte um Entschuldigung.
Der Titel heisst: sind Kalorien böse? Das sind sie sicherlich nicht. Zum Glück haben unsere Lebensmittel einen Nährwert, ansonsten würden sie uns ja gar nicht ernähren, sprich kräftigen. Jedes Mittelstufenkind weiss, dass wir nicht mehr Kalorien täglich zu uns nehmen sollten, als wir verbrennen. Von da her spielt es keine Rolle, was wir essen sondern wieviel. Wenns mir Spass machen würde, könnte ich für meine 1700 Kal. täglich auch nur Chips essen, mache ich aber nicht, weils auch langweilig ist. Jedenfalls geniesse ich mit Freude jeden Bissen Fruchttörtchen, wenn ich Lust darauf habe. So lange mir meine Waage mein Wohnfühlgewicht angiebt, esse und trinke ich nach Lust und Laune! Wird die Jeans mal enger, gibts 1 Woche lang kein Abendessen mehr und alles ist wieder palletti.
Kalorien sind wie Gremlins. Nur dass keiner die Uhrzeit kennt. Ausser Paracelsus natürlich. Beide Sichtweisen haben ihre Tücken. Wahrer Genuss ist doch die Freude am Genuss. Auch wenn es nur der Nachwuchs ist, der einen Sandkuchen gebacken hat. Da erhält der Ausdruck `ungeniessbar` eine glückliche Wende. Was mich zur Frage führt, warum Kalorien manchmal schon beim Anblick ein bisschen schwerer machen. Ja, Gremlins, definitiv.
From all a little