Was heisst alterslos?

Cher wird 70, meine Damen und Herren. Und spontan möchte man sagen: Erst? Denn Cher gehört zu diesen Originalen, die auf der popkulturellen Bühne schon so lange präsent sind, dass man denkt, sie müsste mindestens 90 sein. In der beschleunigten Flüchtigkeit der Popkultur rangiert Cher unter den wenigen Ikonen von Dauer. In der Liga, wo ein Name ausreicht. Und ein bisschen Isolierband für ein Bühnenkostüm.
Cher ist aber nicht nur ein Emblem für Pop und Camp. Sie ist viel mehr. Sie ist eine Pionierin der Alterslosigkeit. Im alten Rom galt man ab 40 als Greis. Wir hingegen steuern auf das amortale Zeitalter zu. Amortalität bedeutet nicht Unsterblichkeit, sondern dass der Mensch sein Leben theoretisch ins Unendliche verlängern kann, aber sterblich bleibt. Also ein Leitbild der scheinbaren Unsterblichkeit oder, genauer: Alterslosigkeit. Alterslosigkeit ist ein steil aufsteigendes Ideal westlicher Gesellschaften. Die britische Autorin Catherine Mayer beschrieb in ihrem Buch «Amortality» das Phänomen des sogenannten «Uniface». Damit ist ein künstlich hergestelltes Einheitsgesicht gemeint, das in der westlichen Welt für Männer wie Frauen immer mehr in Mode kommt, also von plastischen Chirurgen immer häufiger verlangt und auch produziert wird, und sich vor allem durch die Abwesenheit von Eigenschaften auszeichnet: wenig Nase, keine Falten, kaum Augenbrauen, keine Markanz. Das Uniface wirkt weder jung noch alt, sondern: alterslos. Wie Cher.
Das Phänomen der Amortalität wird in der Trendforschersprache als «Down Aging» bezeichnet. Damit ist eine Verjüngung des Sozialverhaltens bei gleichzeitiger Hebung des physischen Durchschnittsalters in der westlichen Welt gemeint. Das heisst: Während sich die statistische Lebensspanne ausdehnt, hat der postindustrielle Mensch in beinahe jedem Lebensalter das Gefühl, jünger zu sein, als er ist. Das hat Konsequenzen für Selbstbilder, Rollenerwartungen und das Verhältnis der Generationen. Und wenn man auch nur ein bisschen genauer hinsieht, bedeutet Down Aging überhaupt keine Akzeptanz des Alterungsvorganges, weder der physischen Alterung noch gar der mentalen der seelischen Reifung. Am Kult der Jugendlichkeit hat sich nichts geändert, neu ist nur, dass jetzt bitte auch die Alten jugendlich sein sollen. Freilich ist das Alter per se, genau wie die Jugend, kein Verdienst, sondern ein Zustand. Wie nun aber eine Gesellschaft dem Alter gegenübersteht, wirkt sich nicht nur auf das individuelle Erleben des Alterungsprozesses aus, sondern auch auf die gesellschaftliche Bewertung und Bedeutung von Zeiterleben, von Schwäche, von Tod und Sterblichkeit im Lebenszyklus. Krankheit und Hilfsbedürftigkeit im Alter scheinen geradezu Versagen gleichzukommen, wenn man erwartet, dass Opa eigentlich Paragliding gehen sollte.
Diese Phobie vor der Vergänglichkeit trägt narzisstische Züge, und es gibt die Theorie, dass wir in einer narzisstisch gestörten Gesellschaft leben. Immerhin lässt sich schwerlich in Abrede stellen, dass die Ästhetisierung unserer Lebenswelt vermittels der Verklärung jugendlicher Körperlichkeit ein unseren Alltag massgeblich bestimmendes Konzept der Spätmoderne darstellt. Und dass dieses psychosoziale Schönheitsideal nicht nur ausgreifend, sondern auch aggressiv ist: Es gibt heute Orte auf der Welt, zum Beispiel Beverly Hills oder St. Moritz, wo kaum ein Teenager jünger ist als 40. Das ändert nichts daran, dass Cher ein Phänomen ist. Sie hat Stehvermögen, und das ist bewundernswert, jedenfalls bei talentierten Menschen. Meinetwegen kann sie auch mit 90 noch breitbreitig auf dem Kanonenrohr eines Zerstörers singen. Happy Birthday.
Bild oben: Wie alt ist diese Frau? 50? 70? 120? Cher bei einem Promi-Anlass 2015 (Justin Lane/Keystone)
11 Kommentare zu «Was heisst alterslos?»
Simone Signorets Karriere dauerte unendlich lang. Sie sah Schauspielerinnen kommen und gehen. Sie blieb gefragt. Sie hatte das Alter benutzt. Simone Signoret: „so ist doch das Leben, das Leben der Frauen, erst ist man ein hübsches Mädchen und dann eine schöne Frau. Dann ist man eine Frau, die einmal schön war, und dann ist man eben häßlich.“ Sehr souverän, denke ich.