Das Leben als Sport

(iStock)

Die spätmoderne Gesellschaft kennt keine autonomen Wertsphären mehr, meine Damen und Herren, wie sie Max Weber noch für die Moderne konstatierte, feststellend, dass Wirtschaft, Politik, Kunst und Religion jeweils autonom operierten und einer eigenen Logik folgten. Stattdessen sind die auch noch von Niklas Luhmann diagnostizierten Systemlogiken, wie das Leben selbst, unter das Gesetz der Akkumulation und Beschleunigung geraten: Der abendländische Mensch von heute muss für seine Glücksseligkeit alles selbst erledigen.

Dafür ist Effizienz vonnöten. Der spätmoderne Leistungsträger, oder, wie der Soziologe Ulrich Bröckling es nennt: «das unternehmerische Selbst», ist immer auf der Suche nach der Optimierung seines Potenzials. Die Lebensspanne wird nun nicht mehr genutzt, um vorbereitet zu sein auf das grosse Weltgericht, sondern zur Rettung der Seele im Diesseits. Was für viele heisst: zur Ausschöpfung eines diesseitigen Lebensgenusses; auf jeden Fall aber zur Erschaffung und Gestaltung des eigenen Ich: Dem Individuum wird seine (mutmassliche oder gefühlte) Einzigartigkeit zur verpflichtenden Aufgabe. Das «Selbst» wird zum Projekt, in das man investiert; ein Projekt, das der Verfügung und Gestaltung des Ich untersteht und nach ökonomischen Massgaben zu behandeln, zu bearbeiten ist: mit Wirtschaftlichkeit und Selbstbeherrschung im Dienste der Leistungsfähigkeit, nach der ökonomischen Maxime der Ertragsmaximierung. Von Transzendenz scheint nichts übrig geblieben als der eigene Ehrgeiz, sein Sosein nicht nur zu vollenden, sondern stets zu überschreiten: Selbstdesign als spätmoderner Seelenersatz. Statt der Tröstungen des Glaubens konsumiert man die Freiheit der Selbstverwirklichung.

Dieses Projekt hat starke moralisch-meritokratische Konnotationen, und wenn es auch vordergründig um Darstellung und Ostentation von Individualität geht, so bleibt doch stets eben die Resonanz, die Anerkennung der anderen ein wichtiges Ziel und Motiv. Darin liegt die Ambivalenz des spätmodernen Individualismus. Die Ambivalenz seines Perfektabilitätsgedankens wiederum drückt sich nicht zuletzt im Leiden aus: Selbstoptimierung ist mit Disziplin verbunden und auch mit Leiden, zum Beispiel den Entsagungen im Dienste einer Ernährungsdoktrin oder der Rekonvaleszenzperiode nach plastischer Chirurgie. Dieses Leiden ist zu ertragen: Der mit dem Optimierungsdogma der digitalen Leistungsgesellschaft verbundene Bildungsmythos impliziert in protestantischer Tradition der ständigen Selbstverbesserung auch eine Ideologie des Willens und der Askese. Und die Ethik der Selbstoptimierung lässt aus diesem Leiden zwar nicht unbedingt etwas Schönes, aber zumindest etwas moralisch Gutes werden: Das schuldet man sich selbst.

Solch Sublimierung des Leidens ist zugleich die Grundlage einer Steigerungslogik: Es geht immer schöner, besser, glücklicher. Hier findet eine Sportmetapher Anwendung auf alle Lebensbereiche: Durch Leistung zum Ziel. Paradoxerweise scheint die einzige Sphäre, in der unendlich expansive Projekte im spätmodernen Kapitalismus gesellschaftlich inzwischen einigermassen verpönt sind, ausgerechnet jene der Wirtschaft, genauer: der Finanzwirtschaft zu sein. Ansonsten kennt die Steigerung keine Grenzen. In der Akkumulation von tendenziell unendlichen Projekten in einem endlichen Dasein liegen das Dilemma und die Tragik des spätmodernen Individuums.

Im Bild oben: Das schuldet man sich selbst – Chirurgie als Selbstoptimierung. (iStock)

4 Kommentare zu «Das Leben als Sport»

  • Heiri Schiess sagt:

    Verstehe diese gescheiten Betrachtungen oft nicht. Ist doch alles einfach das Leben an sich. Auch das spätmoderne Individuum (oder wer auch immer) ist ein normales Tier, das von Biologie und Evolution zwar mit ein paar besonderen Merkmalen ausgestattet wurde, sonst aber genau so funktioniert wie alle anderen. Mehr ist mehr, besser ist besser – ohne dieses Prinzip würden nicht einmal die basalsten organischen Moleküle entstehen. Alles Leben ist in diesem Sinne Sport, Konkurrenz, Weiterentwicklung – vor dem Tod. Dilemma und Tragik sind universell. Weshalb meinen wir, etwas so Besonderes zu sein?

  • sam davis sagt:

    Banale Dinge und Selbsterkenntnisse mit sehr vielen Fremdwörtern und Fremdzitaten gesagt. Schade, früher haben sie jeweils originell und witzig geschrieben.
    Ich halte Selbstoptimierung, und darunter verstehe ich auch Veränderungen, nicht per se für schlecht. Sie haben alles auf die Leidenslinie heruntergebrochen, soweit ich den Text – trotz Stuedienabschluss – Intellekt verstehen konnte.Aber vielleicht muss ich mich hier noch Selbstoptimieren.

  • Daniel sagt:

    Ja, Sie haben richtig beobachtet, Herr Tingler, das Leben ist härter, weil kompetitiver geworden. Früher war man Bauer, Müller oder Schmid, vielleicht noch Pfarrer, Lehrer oder Arzt. Jeder hatte seinen Platz in der Gesellschaft, man stand sich nicht auf den Füssen herum. Ganz im Gegensatz zu heute, wo fast alle in den tertiären Sektor drängen. Wir alle bieten im Prinzip das selbe Produkt an, wenn wir uns auf dem Arbeits- oder Heiratsmarkt präsentieren. Wir sind ersetzbar, weil potenziell obsolet letztlich auch erpressbar geworden. Nun selbstoptimieren wir uns zu Tode, weil wir schlicht müssen.

  • Mirko Milcevski sagt:

    Wir Menschen haben uns verendert und damit auch unser Leben, wir haben viele Prioriteten die, meiner Meinung nach, nicht so wichtig sind, sondern man hat sie einfach übernommen als ob sie etwas natürliches sind. Leider vergessen wir immer wieder was wichtig im Leben ist und deshalb glaube ich das wir so einen großen Fehler machen.

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