Über Kunst und Ware

Was ist Kunst heute, meine Damen und Herren? Nicht wenige Sachverständige würden sagen: eine Ware. Und was sind Waren? Kunst! Die Warenwelt tritt uns immer kunsthafter und ästhetisierter entgegen, Produkte begegnen uns mit Geschichten und Inszenierungen, die Artefakte und Objekte des Alltags werden semiotisiert, d.h. aufgeladen mit Zeichen und Bedeutungen. Dinge wie Autos, Mobiltelefone oder Handtaschen verdichten und fiktionalisieren Erwartungen und Erfahrungen; sie helfen uns, Tätigkeiten, Situationen und Erlebnisse zu interpretieren, zu verklären oder umzudeuten, sie sind Medien der Erziehung und Unterhaltung und Vehikel der Lebensgestaltung und Strukturierung der Lebenswelt. Mit einem Wort: Kunst.
Dinge modellieren Erfahrungen. Und sie modellieren das Ich: Gegenwärtig leben wir in einer Gesellschaft, die Selbstperfektionierung, also die Arbeit am Ich, als Selbstgenuss postuliert; einer der letzten Leitwerte in der Vielfalt der uns umgebenden polyvalenten, hochfragmentierten Kontingenzkultur ist: Authentizität, das absolute Sichselbstgehören. Ein Weg dieser Selbstfindung läuft über den Konsum: Der Kauf wird zur Ausdruckshandlung. Die Dinge ihrerseits sprechen und führen uns in ein Wunderland, in dem wir unser ideales Selbst verkörpern. Oder jedenfalls verheissen sie das. Wenns nicht klappt, kaufen wir einfach was Neues.
Einige Zeitdiagnostiker sprechen gar bereits vom «Ende der Arbeit», und zwar in dem Sinne, dass nun eben nicht mehr die Arbeit, sondern der Konsum zum zentralen gesellschaftlichen Integrationsmechanismus geworden sei: Der Konsum und Besitz bestimmter Sachen und ihrer symbolischen Aura sei essenziell für die gesellschaftliche Teilhabe und für Prozesse der Identitätsbildung geworden. Dinge dienen der Kommunikation mit anderen, zur Befestigung des sozialen Status und transportieren semiotische Codes, die auf soziale Differenzierungen verweisen. Kulturanthropologisch ist hier von einem spätmodernen Fetischismus die Rede, von quasi-religiöser Aufladung der Warenwelt, die in der gänzlich entzauberten Spätmoderne einen Ersatz in der Transzendenz des Immanenten, im goldenen Kalb des Konsums bieten soll. Das heisst: Die soziale Identität erscheint in erster Linie als eine gekaufte.
Fetischisierung wiederum heisst hier Aufladung, heisst Transzendenz der Dinge. In ihrem Verhältnis zu den Gegenständen hat die Gegenwart eine tiefe Ambivalenz ausgebildet: Einerseits liegt in der Fülle der Gegenstände und in ihrer beständigen Erneuerung das Fundament der Wachstumswirtschaft. Andererseits existiert eine Art Objektmagie, die über die Dinge hinausweist: Die Aufladung der Waren, die für bestimmte Identitäten stehen, und der vielschichtige Zeichencharakter der modischen Objekte stellen die Grundlage der symbolisch-integrativen Funktion der Dinge dar. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich spricht davon, dass Markenprodukten insofern ein Aspekt der Transzendenz eigen sei, als dass sie als Teil eines Zeitgeistes oder Lebensstils über sich hinausweisen. Sie haben symbolische Bedeutung, wecken Assoziationen, bieten Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen und gehören insofern über die Dingwelt hinaus auch der Welt des Fiktionalen an. Mit anderen Worten: Sie sind Kunst.
Der Bereich des Symbolischen und Fiktionalen, früher die Domäne der Kunst, dehnt sich in der Spätmoderne also auf immer mehr Produkte und Gegenstände aus: Wenn ich eine Handtasche oder ein Paar Sneakers kaufe, bieten mir diese Dinge Überhöhung und Fiktionalisierung wie der Plot eines Films oder ein Gemälde oder eine Romanfigur. Das spätmoderne Produkt ist zum Zeichenträger geworden, und zwar innerhalb eines Stilpluralismus der Warenwelt, wobei die verschiedenen Stilelemente wie Teile eines Zeichensystems dazu dienen, Assoziationen, Symbolisierungen und Narrative zu erzeugen.
Ich möchte mithin die These aufstellen: Der Konsum macht der Kunst als Identitätsangebot Konkurrenz. Nach Wellen der Metaphorisierung und Inszenierung ist die Welt der Konsumprodukte mindestens ebenso wichtig für die Fiktionsbedürfnisse des spätmodernen Menschen geworden wie die Sphäre der Kunst. Die in Konsumangeboten aufgerufenen Emotionen sind jenen ähnlich, die bei der Aktivierung der Vorstellungskraft durch die Lektüre fiktionaler Texte auftreten können; sie werden als Unterbrechung oder Überhöhung des Alltags empfunden. Jenseits ihres Gebrauchswerts sorgen also Dinge für mehr Bewusstheit; sie schaffen Raum für Kontemplation, inspirieren innere Bilder, virtuelle Reisen, wecken Gefühle, bedienen Erwartungen, setzen Vorstellungen in Szene. Konsumieren kann eine Kulturtechnik sein wie Lesen. Heisst das, dass der Kauf einer Hermès-Tasche das Gleiche darstellt wie die Lektüre eines Romans? Wir werden darauf zurückkommen.
Bild oben: Birkin Bag aus Straussenleder. Foto: Wen-Cheng Liu (Flickr, Wikimedia)
7 Kommentare zu «Über Kunst und Ware»
Meister Lampe empfiehlt mir gerade jetzt Theme from Planet Chick von den Clubheroes. Gerupft und Getüncht? Kunst und Zufall? Konsum und Skandal?
Der westliche Lebensstil bedeutet wohl, sich nur noch über materielle Werte zu definieren. Weil es aber ohne spirituelle Werte offenbar nicht geht, schmücken wir überflüssigen Schnickschnack mit pseudosinnhaften Phrasen und leeren Versprechen. Blingbling übte schon immer eine immense Faszination auf Menschen aus, besonders auf infantile. Je reicher solche Menschen sind, desto kitschiger statten sie ihre Häuser aus. Auch Kunst kann Kitsch sein. Materieller Reichtum geht meistens mit spiritueller Verarmung einher. Das führt dann zu geschmacklosen Kitsch-Exzessen.
Konsumiert werden auch Waren, die hässlich sind oder nur dem Gebrauch dienen und keiner Ästhetik bedürfen. Sie nennen etwa Autos, Mobiltelefone, ein Paar Sneakers, Hermès-Taschen oder den Birkin Bag. Diese Auslese ist bezeichnend. In diese Waren ist die nachgefragte Ästhetik bereits bewusst «hineinproduziert» worden. Somit hiesse es – mit Verlaub: «Der Konsum kunstvoller Waren macht der Kunst als Identitätsangebot Konkurrenz.» Diesfalls wäre (nur) der kunstvolle Konsum eine Kategorie der Kunst und keine Konkurrenz. ― Die Frage nach dem Schöpferischen des «Werks» bleibt offen.
Wir kaufen Dinge nicht mehr, wegen ihrer dinglichen Nützlichkeit, sondern wegen der über sie hinausweisenden Eigenschaften. Wir kaufen nicht Waschmittel, das verspricht, sauber zu waschen, sondern was uns ein glückliches Familienleben verspricht. Nur macht die Dummheit des Konsumenten in diesem Fall keine Kunst, die Transzendenz muss ausserhalb des Dinges in Werbebotschaften, mittels Marketingstrategien (Verknappung) geschaffen werden und erst der Glaube des Publikums bringt die Transparenz in die Ware. Ist Kunst, was wir glauben, sei Kunst oder ist Kunst uns glauben zu machen, es sei Kunst?
Sie haben mich verwirrt, Herr Tingler, mit vielfältigen, auch guten Argumenten. Kunst? Für mich als „Simple“ hat das immer noch mit Können zu tun. Also gekonnte Kunst, die mich sogar anspricht. Wie die Marianne von Delacroix. Darin kann ich wiederum viel hinein interpretieren, und mich so modern „ver-linken“. Auch zur Kunst gehören Kleider, die meine beiden Pflegetöchter manchmal spontan, (eine davon studierte das gar im Lycée Auguste Renoir, Paris; interessante Klasse da, Vielfältige) einfach so machen. Unikate – für? Für alle die das mögen. Ich bin eher Leser.
„Da mach ich mir ein Schlitz ins Kleid und find es wunderbar“ – Ich auch, aber dennoch keine Kunst.