Kulturpessimismus als Reflex

Es wird Zeit, Fritz Stern (wieder) zu lesen, meine Damen und Herren. Nicht nur, weil dieser grosse Historiker und nicht weniger grosse Essayist unlängst seinen 90. Geburtstag feierte. Nicht nur, weil es möglicherweise nicht mehr viele Menschen wie Fritz Stern gibt, der längst eine moralische und politische Instanz geworden ist. Sondern auch, weil er so aktuell ist.
Das gilt einerseits für seine Essays. Zuletzt erschien 2015 der Band «Zu Hause in der Ferne», dessen Beiträge die klassischen Themen Sterns reflektieren: Widerstand gegen Hitler, Deutschland im 20. Jahrhundert, Amerika – und wohin es geht. Ausserdem zeichnet Stern essayistische Porträts von historischen Figuren, die ihn ein Leben lang fasziniert und beschäftigt haben. Der Chemiker, Nobelpreisträger, Ernährungssicherer und Chemiewaffenvater Fritz Haber, zum Beispiel. Haber war Pate von Stern. Oder Albert Einstein. Und, vielleicht vor allen anderen: Heinrich Heine.
Aktualität und zeitdiagnostische Erhellungskraft sind aber gerade auch eine Eigenschaft von Sterns Klassiker: «Kulturpessimismus als politische Gefahr». In diesem Werk, ursprünglich Sterns Promotionsschrift und 1961 erschienen, inzwischen in einer Neuausgabe aus dem Jahr 2005 verfügbar, wird anhand von exemplarischen Figuren konservativer Kulturkritik der deutschen Zwischenkriegszeit eine Ideengeschichte des politischen Ressentiments entwickelt. Und zwar aus liberaler Perspektive, denn Stern ist unbedingt liberal, er fühlt sich den Werten des Westens verpflichtet. Und zeigt am Beispiel früher ideologischer Vorbereiter des Dritten Reiches die Gefährdungen auf, die den modernen, liberalen und demokratisch verfassten Gesellschaften aus der Verzweiflung an der Kultur und aus der Ablehnung der kapitalistischen Welt erwachsen.
Diese Analyse ist von zeitloser Relevanz. Vor allem heute, wo politische Ressentiments wieder um sich greifen und sich in politischen Bewegungen Bahn brechen und Raum bahnen. Wo er wieder vors Mikrofon tritt, dieser nicht totzukriegende, regelmässig zu Katastrophen führende kulturpessimistische Komplex aus Antimodernismus und Aufklärungsfeindlichkeit. «Nietzsche erkannte als Erster die psychologische Macht des Ressentiments und warnte als Erster vor dessen seelenzerstörender Kraft», schreibt Stern. Und diagnostiziert das Paradoxon der «konservativen Revolution»: «Ihre Anhänger wollten die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit wiederzufinden.» Damit erkennt Stern die Grundzüge von Rechtspopulismus; er ist aber auch, wie jeder gute Liberale, auf dem linken Auge nicht blind: Die in vielen Varianten herumgeisternden platten und klischeehaften Ideologeme aus Globalisierungskritik, Antisemitismus und antiamerikanischen Affekten sind ebenfalls freiheitsfeindlich und befördern – nicht zuletzt in ihrer Ablehnung des Liberalismus – exakt jene Kombination von Angst, Verunsicherung und Verdummung, die Stern zu Recht als Ursache ausmacht für den Verfall des Idealismus zum Nihilismus, den Triumph der Irrationalität.
Im Wesentlichen geht es Stern in seinen Texten um die Sorge um die Freiheit, um ein Aufzeigen der Gefahren einer verhängnisvollen Politik, die sich aus der Verzweiflung an der Kultur des Westens nährt. «Eine liberal-demokratische politische Kultur ist stets gefährdet», schreibt er, «und es gibt Zeichen, dass sich die Sitten verändern, dass das Lavieren mit Konflikt und Kompromiss ersetzt werden könnte durch ein Freund-Feind-Denken.» Und zitiert Heine: «Es fehlt nicht an gelehrten Hunden, die das blutende Wort als gute Beute heranschleppen.»
Bild oben: Fritz Stern anlässlich einer Buchvorstellung im Zürcher Kaufleuten. (Gaetan Bally/Keystone)
12 Kommentare zu «Kulturpessimismus als Reflex»
Ein guter Text, Philipp. Möchte-gern-Philosoph Constantin Seibt sollte einmal für ein paar Stunden zu dir in die Nachhilfe…
@Jacques: „…Janis Joplin und Kris Kristofferson….. Zwei Freiheitsliebende!“
„Bobby McGee“ ist keine Hymne auf die Freiheit, es ist ein Blues über Einsamkeit, endend mit „Feel so low and alone and lonely now…“
@Jacques:
Die Hippies betonten die Gleichheit und die Brüderlichkeit. Die wie andere Hymnen (Laudatio, Lobhudelei) auch kitschige der Hippies hat John Lennon geschrieben: No possesions, no countries, no Religion, a brotherhood (sic) of man. „Kommunismus / sozialistische Internationale“ könnte man sehen. Die Hippies sahen, nur Gleichheit und Brüderlichkeit ermöglichen Freiheit für den Menschen als soziales Wesen.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bedingen sich gegenseitig, widersprechen sich und sind gleich Wert. Unserer Kultur entsteht aus diesem Paradox.
Unvergessen: Clara Immerwahr.