Dem Alltag entfliehen

Ich kriege, wie Sie sich denken können, recht viele Bücher zugeschickt, meine Damen und Herren, und in einem Band des Hanser-Verlags steckte neulich ein Lesezeichen mit einem Slogan, den ich für sie fotografiert habe: «Dem Alltag entfliehen …»
Viele gute Bücher erscheinen bei Hanser (und auch weniger gute), und gerade deshalb möchte ich dringend anraten, diesen unglücklichen Slogan, dem irgendwie ein bisschen Fünfzigerjahre-Flair anhaftet, doch noch einmal zu überdenken. Denn was sagt dieser Slogan? Er sagt: «Wir glauben, dass wir unsere Zielgruppe am besten erreichen, indem wir ihr mit unseren Büchern Flucht aus dem Alltag versprechen.» Er sagt darüber hinaus: «Gute Bücher sollten die Flucht aus dem Alltag ermöglichen.» Sowie: «Unsere Zielgruppe hat einen Alltag, von dem wir annehmen, dass er so beschaffen sei, dass sie ihm entfliehen möchte.» Alles ziemlich unglücklich. Und der Umstand, dass es sich bei dem abgebildeten Konterfei um eine Reproduktion des Covers zu Michael Köhlmeiers neuem Roman handelt, der ein Flüchtlingsschicksal allegorisiert, wirft zusätzliche Geschmacksfragen auf.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, verehrte Leserschaft, aber ich für meinen Teil habe keinen Alltag, dem ich entfliehen möchte. Und dies war auch noch nie meine Motivation, ein Buch zu lesen. Natürlich kann die Aktivierung der Imagination durch die Lektüre fiktionaler Texte als Bereicherung oder Überhöhung des Alltags empfunden werden, aber das hat nichts mit einer Flucht zu tun. Ich lese, um mich zu unterhalten und zu bilden, um Altem und Neuem zu begegnen. Das gehört zu meinem Alltag, es stellt ihn dar. Und jemandem, der sich über seinen Alltag beklagt, würde ich nicht unbedingt die Flucht empfehlen. Flucht ist oft nicht die beste Lösung. Ausser bei Grizzlys. Oder war das Totstellen?
9 Kommentare zu «Dem Alltag entfliehen»
mir gefallen bilderbücher am besten. vor allem, wegen den bildern. ich kriege deshalb immer streit in der spielecke der bücherei. so mit der ganzen belle-trist-ik warte ich immer, bis das zeug verfilmt wird. wobei die horrorfilme eher selten auf grosser lidera-dur aufbaut, leider. da wären wird dann eher wieder bei den bilderbüchern.
Weltflucht? Eigentlich schon ein uraltes Thema. Der Welt kann man nie entfliehen, die holt einen sowieso wieder ein. Selbst als Einsiedler – auf einem Hügel irgendwo. Aber man sich auch einrichten, und vom Alltag (was das auch immer wäre) – kleine Fluchten machen (Les petites fuges; auch Film von Yves Yersin, dazumals). Gute Bücher taugen auch sehr.
jeder hat so seine Motivation um Bücher zu lesen. Ein paar davon sind sehr schön in „Tintenherz“ von Cornelia Funke beschrieben. Und ja, meistens begibt man sich beim Lesen in die Welt, die der Autor beschreibt oder erfindet, und das ist normalerweise nicht meine Welt, so dass ich meinem Alltag auf diese Weise entfliehe – eine grandiose Horizonterweiterung.
Man müsste vom Alltag überholt werden und ihm hinterher rufen und anfeuern: „Lauf! lauf!“