Kapseln des Teufels

Jean Dujardin im Nespresso-Werbespot. (Screenshot)

Wir haben uns an dieser Stelle vor einiger Zeit bereits mit dem Phänomen der Scham befasst, meine Damen und Herren, und haben dabei, was die zeitgenössische kulturelle Dynamik dieses Gefühls anbelangt, auch rekapituliert, dass der Journalist und Literaturkritiker Ulrich Greiner in seinem Buch «Schamverlust – Vom Wandel der Gefühlskultur» unter anderem feststellt, wie einerseits die Sexualscham an Virulenz verloren habe, andererseits aber eine stärkere Statusscham an ihre Stelle getreten sei. Also: Das spätmoderne Subjekt hat weniger Skrupel, Nacktselfies von sich anzufertigen und zu verschicken – aber bitte immer auf dem neuesten iPhone.

So weit, so bekannt. Der spätmoderne Umgang mit der Scham ist aber noch durch ein anderes Phänomen gekennzeichnet: das der Beschämung. Fachsprachlich: «shaming». Unter Shaming versteht man Äusserungen und Verhaltensweisen, die bei anderen gezielt Gefühle von Unterlegenheit, Reue und Scham inspirieren sollen. Gesellschaftlich kritisiert wird oft das sogenannte Body Shaming, das beispielsweise die Werbung der Mode- und Kosmetikindustrie mehr oder weniger implizit über Propagierung unerreichbarer Körperideale betreibe.

Aber unlängst hat, vielleicht in der allgemeinen Stimmung anlässlich der Pariser Klimakonferenz, ausgerechnet die deutsche TAZ auf eine andere Form hingewiesen: Öko-Shaming. Öko-Shaming ist der Vorwurf an die anderen, unseren Planeten zu ruinieren; der TAZ zufolge «betrieben meist von jungen Menschen, die mit der fordernden Haltung von Versicherungsvertretern und dem vorwurfsvollen Ton der katholischen Kirche ihren Lebensstil vor sich hertragen und ihn anderen aufzwängen wollen». Öko-Shaming sei die bevorzugte Äusserungsform des «Ökohipsters», bei dem es sich wiederum um «eine der vielen Ausgeburten der Facebook-Generation» handle: Leute, die irgendwas im Internet aufschnappten, was mit etwas Glück auch faktisch gar nicht falsch wäre, zum Beispiel, dass Aluminium-Kaffeekapseln entsorgungstechnisch ein Teufelswerk seien. Dann aber greift die Doppelmoral: Der Ökohipster gehe faustschwingend auf seine Umgebung los, ohne auch nur eine Sekunde seinen eigenen Lebensstil zu überprüfen.

So weit die TAZ. Doppelmoral ist freilich kein spezifisch spätmodernes zivilisatorisches Phänomen. Ebenso wie die gezielte Beschämung und Anprangerung anderer Menschen. Was der Spätmoderne eigen ist, ist lediglich die Gleichzeitigkeit von fortgeschrittener Technik und primitiven psychischen Entlastungsmechanismen. Man könnte diese sich verschärfende Ungleichzeitigkeit von Technik und Moral, die im Grunde ein alter Topos der Modernisierungskritik ist, als «Rasenden Stillstand» bezeichnen. So jedenfalls beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa in Anlehnung an den französischen Philosophen Paul Virilio das Paradox einer Gesellschaft, in der sich die technologische Entwicklung im exponentiellen Galopp beschleunigt und gleichzeitig die kulturelle Bewegung zunehmend erstarrt. Aber das ist vielleicht ein wenig zu drastisch. Wir bewegen uns ja immerhin. Im Schneckentempo.

Im Bild oben: Jean Dujardin im Nespresso-Werbespot. (Screenshot)

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