Die Glocke der Eigenzeit

gatwick_lounge

Fiktionen sind nicht das Gegenteil der Wirklichkeit, meine Damen und Herren, sondern Instrumente ihrer Konstruktion. Die sogenannte Wirklichkeit hat seit jeher einen doppelten Boden, und seitdem wir über digitale Techniken der Simulation und virtuellen Realität verfügen, die unsere Psyche durch ganz neue Spiegelungseffekte verwirren, wird fraglich, ob die alte Unterscheidung zwischen Realem und Imaginärem überhaupt noch einen Sinn hat. Fest scheint zu stehen: Die eigene äussere Welt ist das, was man sieht und was man erlebt. Der Philosoph Rüdiger Safranski drückt das so aus: Man lebt in der Glocke seiner Eigenzeit.

Wie bitte? Das ist Ihnen zu abstrakt? Gerne werde ich konkreter: Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich bisweilen nur für ein paar Stunden irgendwohin fliege. Wie das zum Beispiel auch bei Geschäftsleuten oder Politikern vorkommt. Ich bin aber kein Politiker oder Geschäftsmann (jedenfalls nicht im üblichen Sinne), sondern Schriftsteller, und mir kann die Welt um sieben Uhr morgens nichts bieten, was nicht um elf schon viel besser aussähe. Sieben Uhr früh ist nicht meine Eigenzeit. Andererseits muss man, wenn man für nur ein paar Stunden irgendwohin fliegt, ziemlich zeitig aufstehen, und ich betrachte diese frühe Welt, die ich sonst nicht zu sehen kriege, ungefähr so, wie Kolumbus Amerika betrachtet hat oder Kate Middleton die Upperclass: mit den Augen eines Fremden, Zugereisten, Nicht-ursprünglich-Dahingehörenden.

Zunächst wundere ich mich dabei regelmässig im Allgemeinen darüber, wie viele Menschen morgens um sieben schon unterwegs sind – aber aus diesem Erstaunen spricht natürlich nur meine fehlende Gewöhnung. Und bitte schreiben Sie mir jetzt deswegen keine Briefe, danke. Dann erstaunt mich im Besonderen, wie viele Leute morgens um sieben schon am Flughafen sind – doch auch dieser Umstand ist selbstverständlich lediglich im wahrsten Wortsinne «business as usual», besonders wenn der betreffende Flughafen so strategisch liegt und geschäftstüchtig ausgerichtet ist wie Zürich-Kloten. Heerscharen sind hier unterwegs, Legionen bewegen sich werktags morgens um sieben!

«Der Flughafen ist mein Laufsteg», twitterte Victoria Beckham, dies unerschöpfliche Gefäss von Weisheit. Frau Beckham – oder «Posh», wie wir sie zu Hause immer noch nennen – will also (auch) am Flughafen offenkundig vor allem sich selbst präsentieren; diese Präsentation ist jedoch ihrem Wesen nach nicht mit Lautstärke verbunden; dies im Gegensatz zum Auftreten von anderen Leuten. Der Lautstärkepegel in diesen frühen Stunden ist erstaunlich, selbst an einem so reservierten Ort wie Zürich. Und wissen Sie, was dabei total unterschätzt wird? Die Geräuschkulisse, die von Geschäftsleuten ausgeht. Damit meine ich nicht nur die Rumtelefoniererei und das ständige Gehuste, sondern früh am Tag auch ganz eigenartige Erweckungs- und Erwachensgeräusche, die man der Konvention nach doch eigentlich füglich für die Privatsphäre reservieren sollte: lautes Gähnen etwa (ja, so was gibt es, zu hören in jeder Flughafenlounge in Ihrer Nähe) oder diese spezielle Art von Räuspern, die eigentlich eher als lautintensiver Rachenputzer anzusprechen wäre; womöglich, um die morgendlich-müde Kehle für den Handelstag frisch zu machen. Vielleicht aber äussert sich darinnen auch eine Art von Erschöpfungsstolz, der bekanntlich in der postindustriellen Leistungsgesellschaft, wo die Arbeitsergebnisse immer stoffloser werden, den traditionellen Werkstolz abgelöst hat.

Wie dem auch sei: Abends sind sie viel leiser. Die Geschäftsleute. Auf dem Rückflug. Gedämpfte Gegenwartsmusik, wenn Sie so wollen.

Bild oben: Entspannter Frühaufsteher in einer Lounge im Londoner Flughafen Gatwick.

4 Kommentare zu «Die Glocke der Eigenzeit»

  • Miley sagt:

    Lieber Philipp
    Bitte streiche doch das stofflos aus deinem Cortex und dann noch das traditionell. Dann siehst du das nicht nur das Werk.
    Herzliche Grüsse

  • Winston sagt:

    Wenn Safranski sagt, man lebe in der Glocke seiner Eigenzeit, muss sich dies auch auf die eigene äussere Welt beziehen, als das, was man sieht und was man erlebt. Ich nehme aber auch an, dass sich die Eigenzeit auch auf die eigene Phantasie bezieht. Das macht den Menschen aus. Insofern bleibt das Imaginäre bestehen. Ob das Imaginäre indes mit dem Idealen gleichzusetzen ist und die „Existenz“ des Letzteren begründen kann, weiss ich nicht. Ich denke, mit dem Alter und der Einsicht kommt man immer mehr vom Idealen weg und klammert sich bloss noch an das Imaginäre – in der Glocke der Eigenzeit.

  • Anh Toàn sagt:

    Seien Sie froh, dass Sie fliegen dürfen. Fahren Sie mal mit dem Zug, Herr Doggter. Im Sommer die Wanderer, im Winter die Skifahrer. Nicht nur, dass die freiwillig um diese Zeit unterwegs sind und gerne mit Ausrüstung um sich schlagen. Die sind auch noch froh um diese Zeit. Abends sind auch diese meistens leiser, wohl auch aus Erschöpfungsstolz. Häufig ist dies aber wenig Trost für die olfaktorische Belastung.

  • Jacques sagt:

    Ist das nun diese Welt, als Wille und Vorstellung? Das kann ich mir schon vorstellen.

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.