Wonach beurteilen wir andere?

Wenn man anfängt, ein Buch zu lesen, meine Damen und Herren, zum Beispiel zur Prüfung für den «Literaturclub», lässt man sich nicht nur auf eine mehr oder weniger fiktive Geschichte ein, sondern auch auf einen sehr realen Menschen: den Autor oder die Autorin. In der Tat erfährt man schon auf den ersten Seiten, ganz unabhängig von der Art der Geschichte und der Qualität ihrer Darstellung, sehr viel über den Menschen, der sie erzählt: ob er Humor hat und ob man ihn teilt, was seinen Erfahrungshorizont und seine Weltsicht ausmacht, worauf er achtet und Gewicht legt, und ob er als Bewegungsprinzip des ganzen Daseins eher den entfesselten Zufall gelten lässt oder aber den Zwangzusammenhang einer höheren Vorsehung, die durch alle Dinge hindurchreicht. (Was ist weniger belastend?)
Nun gibt es sicher einige unter Ihnen, die finden, die Lektüre eines ganzen oder halben Buches sei doch eventuell etwas wenig für so ein umfassendes Urteil über den dahinterstehenden Menschen. Worauf ich gern erwidern möchte, dass wir alle – also nicht nur so entnervte, oberflächliche Charaktere wie ich, sondern auch Sie, liebes Publikum – in der Regel noch sehr viel weniger aufwenden, um unsere Mitmenschen zu kategorisieren. Vor allem: weniger Zeit. Wir können gar nicht anders. Das sind archaische Mechanismen.
Die archaischen Mechanismen der Gesichtsbeurteilung, beispielsweise. Im Antlitz Ihres Nächsten können Sie ja nicht nur dessen (vermeintliche) aktuelle Emotionen und Handlungstendenzen ablesen, sondern auch grundsätzliche Einstellungen und Präferenzen. Und zwar tun Sie dies quasi automatisch, vermittels eines uralten Blitzurteil-Schaltkreises, der in unser aller neuronaler Struktur angelegt ist und schon nach Zehntelsekunden ein Verdikt über mutmassliche Intelligenz, Vertrauenswürdigkeit und viele andere unterstellte Eigenschaften unseres Gegenübers abgibt.
Dafür dient, quasi als Biomarker, zum Beispiel die Symmetrie eines Gesichts als Indikator – oder auch der sogenannte Breite-Höhe-Quotient (also die Distanz zwischen den Wangenknochen im Verhältnis zum Abstand von der Oberlippe bis zur Nasenwurzel). Ein hoher Breite-Höhe-Quotient kennzeichnet das sogenannte testosterongeprägte Gesicht, wird also als Anzeichen für Aggressivität und Dominanzstreben wahrgenommen. In Zehntelsekunden, wie gesagt. Aber zum Glück nicht völlig irreversibel.
Wir haben also immer schnell geurteilt; selbst zu Zeiten, als noch keine Rede von «Gegenwartsschrumpfung» war. Darunter wiederum versteht man die zunehmende Erfahrung der Welt als instabil: Wenn man die Gegenwart als die Zeit begreift, in der die Dinge bleibende Geltung haben, und zugleich der soziale Wandel sich beschleunigt, dann schrumpft das Jetzt. Tatsache ist: Seit 1825 hat sich unser Kommunikationstempo um das Zehn-Millionen-Fache beschleunigt. Die Gegenwart reduziert sich auf die Aktualitätsspitze. So verliert die Welt an Dauer.
Doch selbst wenn wir endlos viel Zeit hätten, würden wir unsere Mitgeschöpfe erst mal in Sekundenbruchteilen beurteilen. Das ist das, was man eine anthropologische Konstante nennt. Weil man früher nämlich auch nicht so viel Zeit hatte, bevor einem das Gegenüber möglicherweise eins mit der Keule auf den Kopf gab. Manche Sachen ändern sich, jedenfalls ihrem Prinzip nach, nie. Oder nur sehr langsam. Noch nicht mal die Keule ist überall überwunden. Ansonsten bleibt die allegorische Keule der Kritik. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich muss ein paar Bücher für den Literaturclub prüfen. Bis übermorn. Bitte halten Sie Ihre Urteile reversibel. Jedenfalls die wichtigen.
Bild oben: Freund oder Feind? Schon unsere Vorfahren mussten diese Entscheidung in Sekundenbruchteilen treffen. Ausschnitt aus dem Film «Am Anfang war das Feuer».
6 Kommentare zu «Wonach beurteilen wir andere?»
Ich habe mich auf „Schöne Seelen“ und damit auch auf Sie, Herrn Dr. Tingler, eingelassen. Nur soviel: Die Bezeichnung „Sydefädeli“ ist ganz grosse Klasse.
Lieber Philipp
..entnervt, oberflächlich…Ich glaube dir kein Wort. Ich glaube aber auch dass die Vergangenheit die Zukunft ist und die Gegenwart die Vergangenheit. Die einzige mir bekannte Konstante ist die Lichtgeschwindigkeit.
Für alles andere brauchst du nur einen guten Fotografen.
Schwer vermessen von mir, Ihre Wortwahl zu kritisieren, aber beurteilen meint irreversibel. Ein Urteil soll einen Streit endgültig entscheiden, sagen die Juristen. Können wir als vernunftbegabte, wenn auch leider zu wenig vernunftgesegnete Wesen, also mit Anstrengung, ein wenig unsere Primateninstinkte zügeln und den archaischen Automatismus auf einschätzen statt beurteilen reduzieren? Wir möchten uns doch von den Primaten unterscheiden, dem archaischen Automatismus beschäftigt sich nicht mit dem Unterschied zwischen Urteil und Einschätzung.
„Bitte halten Sie Ihre Urteile reversibel. Jedenfalls die wichtigen.“ Die beste Bitte/der beste Ratschlag, den ich bis dato gelesen haben!
Den Satz würde ich mir patentieren lassen!
Ich freue mich auf den nächsten literaturclub endlich wieder mit Ihnen!
Danke:)