Dürfen Transsexuelle konservativ sein?

Der Philosoph Robert Pfaller, meine Damen und Herren, den wir neulich an dieser Stelle im Zusammenhang mit dem Kindermädchenstaat zitiert haben, benutzt den Begriff des Unterbrechungsritus. Damit gemeint sind Kulturtechniken der Unterbrechung wie zum Beispiel das Trinken von Kaffee oder Alkohol oder auch das Rauchen; Praktiken, die nach Pfallers Auffassung eine entscheidende psychohygienische Funktion erfüllen, indem sie eben die Arbeitsroutine unterbrechen und den Menschen quasi eine kurze Rückkehr zu sich selbst gestatten, ein kleines Refugium, wo sie sich kurz souverän fühlen können, wo sie eine bestimmte Würde, Eigenwilligkeit oder auch Renitenz ausbilden können.
Eine derartige Bestimmung von Unterbrechungen impliziert natürlich, dass die Arbeit per se als tendenziell fremdbestimmt und gar entfremdend wahrgenommen wird. Doch auch selbstbestimmte, freudvolle Arbeit muss dann und wann unterbrochen werden, um sich zu erholen, zu zerstreuen und zu inspirieren. Wie Sie wissen, schufte ich von morgens bis abends (okay: mittags bis abends) an der Burn-out-Grenze für Sie, verehrte Leserschaft. Und wissen Sie, wie mein aktueller Unterbrechungsritus heisst? «I Am Cait».
«I Am Cait». So lautet der Titel des Reality-Fernsehformats, mit dem wir Bruce Jenner beim Übergang in das Leben als Frau begleiten. Eine Frau namens Caitlyn. Spätestens seitdem Caitlyn Jenner auf dem Cover von «Vanity Fair» erschienen ist, kennt jeder, zumindest jeder in den Vereinigten Staaten, die Geschichte: Bruce Jenner, früherer Leichtathlet und Weltrekordhalter und olympischer Goldmedaillengewinner im Zehnkampf 1976, später Vaterfigur des Kardashian-Clans, war transsexuell. Jetzt ist aus Bruce also Caitlyn geworden. Dieser prominente Übergang hat dem Phänomen der Transidentität zu einer neuen Bekanntheit und Präsenz in der öffentlichen Debatte verholfen; auch im «Club» des Schweizer Fernsehens wurde unlängst diskutiert zu der Fragestellung «Transgender – das Geschlecht selbst bestimmen?»
— Caitlyn Jenner (@Caitlyn_Jenner) 1. Juni 2015
Die interessante philosophische Frage, wie selbstbestimmt man in der Wahl seines Geschlechts wirklich ist, wurde von einer Diskussionsteilnehmerin, der Philosophin Barbara Bleisch (die ich an dieser Stelle herzlich grüsse, weil ich weiss, dass sie eine treue Leserin dieses Blogs ist), um eine andere Frage ergänzt, die leider unbeantwortet blieb: Warum gehen eigentlich sowohl Transgender- wie Nicht-Transgender-Personen immer von einem fixen binären Geschlechtermodell aus?
Das Zulassen von Zwischenformen – ist eine liberale Tugend, mit deren Abwesenheit auch Caitlyn Jenner zeitlebens zu kämpfen hatte und heute noch kämpft; nicht zuletzt übrigens, wenn sie nun aus den Reihen der sogenannten Transgender-Community dafür kritisiert wird, dass sie sich nie mit jenen prekären finanziellen Verhältnissen auseinanderzusetzen hatte, die den Alltag nicht weniger Menschen mit Transidentität leider erschweren. Sondern ihren Übergang quasi aus einer Position der Privilegiertheit vollzieht. Und sich beispielsweise geschlechtsangleichende Prozeduren leisten könne, die sie zu einer so perfekten Frau werden lassen, dass sie damit unerreichbare Massstäbe für transsexuelle Menschen mit weniger Geld setzt.
Doch jemandem vorzuwerfen, dass er nicht arm ist, ist ungefähr genauso engstirnig und behämmert, wie jemandem seine Transidentität vorzuwerfen. Wenn sich also Caitlyn Jenner jetzt anhören muss, es sei bedenklich konservativ, dass sie feststellt, dass manche Sozialtransfers die Menschen nicht gerade zum Arbeiten motivierten, hilft das niemandem. Was ich sagen will, ist: Etwas weniger Selbstgerechtigkeit auf allen Seiten würde uns alle weiterbringen. Mal wieder.
Bild oben: Caitlyn Jenner soll konservativ sein.
11 Kommentare zu «Dürfen Transsexuelle konservativ sein?»
Meine Meinung zur eigentlichen Fragestellung ist eindeutig „ja, Transsexuelle dürfen konservativ sein“!
Ich habe mich viele Male mit der Frage auseinander gesetzt, ob ich zwischen den Geschlechtern leben könnte. Irgendwann habe ich mich aufgrund meines „Innenlebens“ gesagt, „nein“ das will und kann ich nicht. Ich liebe die beiden Geschlechter, ich liebe die Geschlechterunterschiede, ich liebe die Konflikte, die daraus entstehen. Kurzum ich liebe mein Frausein in vollen Zügen.
Wenn es anders wäre, hätte ich nicht den ganzen Prozess der Transition machen müssen. Eine Zwischenwelt war undenkbar.